Montag, 2. Dezember 2013

LESEPROBE aus dem Roman "SÜß"


LESEPROBE aus dem Roman SÜß

Wie ein Archäologe, der zwei Wochen auf die Begehung einer Grabkammer warten muss, die Zeit totschlägt.
Man könnte abhängen, saufen, sich mal wieder verlieben ...


Aus der Rezension von Daniela Noitz:

Spannend und ent-setzend zugleich, führt uns der Autor in die Tiefe der Geschichte, des Grabes und die Abwege einer emphatischen Natur. Fesselnd und betörend, wie die asiatische Schönheit, nüchtern und ernüchternd, wie die deutsche Gegenspielerin, endet es, ohne uns zu erlauben die Geschichte wieder zu verlassen.


Aus Kapitel 14:

Na Ihr Arschkrampen?” Da er gleich hinterher lachte, konnten die anderen es noch geradeso als Scherz hinnehmen, aber die Frau fand es etwas heftig. Corbi bestellte sich einen neuen Whiskey und ein deutsches Bier.
Der Deutsche an sich ist schon eine seltsame Konstruktion. Den echten Deutschen gibt es ja nicht, er ist nur ein Produkt der Fickerei zwischen etwa zwei Dutzend germanischen Barbarenstämmen, Römern und noch wilderen Personen von der Wolga oder aus der Taiga. Das Deutsche ist eine Entscheidung und keine Erblast. Preußen, Bayern, ein bisschen Österreich und viel Exotisches. Deutschsein ist ein Nest, und meist eine gemütliches. Aber wie bewertet man eine Kultur, die einerseits für ihre Präzision gerühmt wird, aber niemand nachfragt, in was wir so präzise sind, und bitte jetzt nicht 'Autos!' reinbrüllen. Wir haben doch die größte Präzision darin erlangt, alles Wesentliche aus unseren Agendas herauszustreichen, wie von einem Formular.
Übrig bleiben Punkte und Kommas, und vielleicht ein paar Fakten, die keinen interessieren und die einen unwillkürlich an einen leeren, bakterienverseuchten Stuhl im Wartezimmer einer Proktologenpraxis erinnern. Vollkommen ausgemerzt haben wir jede Form von Leichtigkeit, die wir an Spaniern, Italienern und Franzosen so schätzen, aber weshalb wir sie auch missachten. Wir sagen, die Italiener seien ein Volk von Kellnern, aber ist ein italienischer Kellner nicht glücklicher als eine deutsche Politesse?
Wusstet Ihr, dass die deutschen Einwanderer in New York deshalb so beliebt waren, weil sie als einzige zu feiern verstanden haben? Irgendwas ist zwischen der damaligen Zeit und heute verloren gegangen. Gefeiert wird nach Terminplan, vor und hinter der Maloche, und immer muss genau draufstehen, was drin ist. Erzähle einen Witz in Deutschland und kündige ihn nicht vorher an. Sei versichert, dass sie es Dir übel nehmen. Deutsche haben immer Angst davor, etwas aus eigener Krft interpretieren zu müssen. Das war mal anders. Ich glaube das sind immer noch Nachwirkungen vom Dritten Reich. Da durfte man ja nichts, sonst gings ins Lager ...
Ich glaube wirklich, dass die Nazis einiges an der natürlichen Fähigkeit zum Beurteilen versaut haben. Eins muss man den Nazis aber lassen: Die Bücherverbrennung war echt originell, fast zu vergleichen mit den subversiven Aktionen des Surrealismus. Aber die Nazis waren natürlich zu dumm, um das Avantgardistische darin zu erkennen. Sie haben einfach wie kleine Kinder etwas zerstört, was 'Bäh' war. Schade eigentlich ... Entschuldigt, ich glaube ich bin ein wenig konfus. İch kann nicht glauben, dass ich nach so wenig Stoff schon so betrunken bin.”
Sogleich beschloss er, sich nicht länger die Blöße zu geben und entfernte sich, ohne zu wissen, ob die anderen Gäste ihn verstanden hatten.
Im Bett fummelte er unentschlossen mit seinem Handy herum. Es war noch nicht allzu spät, und er sendete:
Geht es Dir gut?”
Er wartete auf eine Antwort. Es kam keine. Dann schlief er ein.
Es geht mir gut. Wir waren mit Freunden essen” las er nach dem Aufwachen. Erfreut stellte er fest, dass er keinen Kater hatte. Doch er fühlte sich unausgeglichen und mürrisch.
Fast drei Kilometer führte der Steg über das Wasser zur Insel. Corbi hatte, seit er hier angekommen war, nie das Gefühl gehabt, sich an einem Meer zu befinden. Dieses Gewässer sah er immer als ein Binnenmeer, und genau wie es sich mit dem Mittelmeer heute verhielt, verband es die Menschen nicht, sondern trennte sie voneinander. In der Antike war das Mittelmeer die große Verbindung zwischen den Völkern, zwischen Europa, Asien und Afrika gewesen. Die Phönizier begannen mit ihrem Handel, später lieferte Ägypten Getreide nach Rom. Heute trennte es die christliche von der islamischen und der dritten Welt. Trotz all der globalen Verbindungen, trotz Internet und Religionsfreiheit war seit dem Mittelalter diese starre Trennung haften geblieben. Mehr als je zuvor galt das Meer als eine Passage zur Fremde, und interkontinentale Freundschaften über soziale Netzwerke hatten daran nichts geändert.
Corbi erinnerte sich an seine Jugend und wie sehr es ihn in die USA gezogen hatte, in das Land des Blues und Jazz, in dem es dennoch einen ägyptischen Tempel in einem New Yorker Museum geben konnte. Heute reizte ihn an diesem Land überhaupt nichts mehr, und nun suchte er nach den großen Verbindungen nur noch innerhalb des europäischen und vorderasiatischen Raums. Ob es sich um eine schlichte Sehnsucht handelte, konnte er nicht bestätigen, aber es war der Drang, ein wenig mehr von der kollektiven Psyche des Menschen zu verstehen, und wenn man in einem Jungschen Sinne davon überzeugt war, dass es so etwas gab, musste man in die Geschichte gehen, um es zu erforschen.
Die Grube, die teilweise von dem Erdbeben freigelegt worden war, maß etwa 70 qm. Die umliegende, mit Planquadraten definierte Grabunsstelle noch einmal 100.
Corbi empfand nun, da er sich allein dort befand, eine kindliche Freude. Er tadelte sich, sie so lange ignoriert zu haben. Hier war etwas, das es zu entdecken galt. Was nur ihm und Ansgar gehörte, zumindest vorerst.
Corbi kletterte an der Leiter die Grube herunter. Aus dem Loch ragte der dicke Schlauch, dessen Pumpen heute nicht in Betrieb waren. Corbi ging zu dem Loch, das man allerdings wegen des Schauches kaum einsehen konnte. Dennoch hockte er sich an den Rand und leuchtete mit seiner Stablampe hinein.


 
 
 
 
 

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