Als der erste Schnee
fiel, richtete sich Tavie einen kleinen Verschlag ein, um Wildfleisch
aufzuhängen. Darunter Hase, Eichhörnchen und sogar Reh. Tavie
schaute mittlerweile an einem Abend pro Woche Fernsehen und benutzte
es, um ihr geistiges Spektrum an dem der Außenwelt zu messen.
Zufrieden stellte sie Woche für Woche fest, dass sie sich genau in
einer richtigen Balance zu ihrer Mitte befand, sich nun jedoch
erlaubte, mal einen Tag traurig oder verstimmt zu sein. Es kam auch
vor, dass sie an einem Tag das Bett überhaupt nicht verließ oder
sich betrank. Die meiste Zeit jedoch schrieb sie, erfand Geschichten
von Tieren und manchmal auch von Fabelwesen, die sowohl grimmig und
hinterlistig, als auch liebebedürftig und weise sein konnten. Die
Reibung der Figuren in ihren Geschichten hielten ihren Geist und ihre
Leidenschaft wach, und man könnte sagen, dass sie mit einer neuen
Art inneren Kampfes einen besseren Umgang mit bisher verdrängten
Teilen ihrer Persönlichkeit lernte.
Sie fegte den Schnee
vom Steg, setzte sich nieder, ganz nach vorne, und ließ ihre Beine
herunter baumeln. Der Himmel war grauweiß, die Baumwipfel bestäubt
von Schnee, und der See dunkel.
Zum ersten Mal, seit
sie hier wohnte, dachte sie über Weihnachten nach und was es als
Kind für sie bedeutet hatte. Geschenke über Geschenke, Gebäck und
Lieder, und überall die warmen Lichter und das seltene Erlebnis,
dass alle nett zueinander waren.
In der Ferne,
irgendwo zwischen der Schnittstelle zwischen See und Himmel, kam ein
Boot geschwommen. Sofort stand Tavie auf beiden Beinen und schärfte
ihren Blick.
Der Boot schien nur
zu treiben. Und die Person, die sich darin befand, regte sich nicht.
Tavie wurde von einer starken Aufregung erfasst. Dazu kam ein wenig
Sorge, und auch ihre Neugier.
Der See trieb das
Boot zum Steg. Ganz langsam.
Der Mann lag wie ein
Kind darin, wie Moses im Binsenkörbchen, und er war nicht bei
Bewusstsein.
Tavie konnte es
nicht abwarten, ihn genauer zu betrachten. Seine Kleidung schimmerte
weiß vom letzten Schneefall.
Tavie nahm eine
lange Stange, die auf dem Steg lag, und versuchte damit, das Boot
heran zu holen.
Als sie es zu fassen
bekam, versuchte sie, es mit der Stange notdürftig zu fixieren.
Plötzlich wachte
der Mann auf und hob den Kopf. Er sah aus wie Lennox, wie der eine
und wie der andere.
„Wo bin ich?“
fragte er.
„Bei mir.“ Am
liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er bewaffnet war, doch sie ließ
es bleiben.
„Komm, ich helfe
Dir aus dem Boot. Kannst Du aufstehen?“
„Moment, ja, ich
denke schon. Ich bin verletzt. Am Bein. Aber es geht.“
Tavie nahm seine
Hand, an der er sich auf den Steg zog. Es stimmte. Er konnte nur auf
einem Bein stehen. Tavie konnte nicht anders und hakte sich bei ihm
unter.
„Das ist aber sehr
nett. Wo bin hier hin geraten? Mir scheint, ich habe die Grenze
hinter mir gelassen.“
„Das stimmt.“
Zu ihrer
Erleichterung stellte sie fest, dass es dieser Mann zunächst einmal
nicht böse mit ihr meinte. Und er benötigte dringend Hilfe.
Als Tavie ihn im
Haus in den Sessel gleiten ließ, fiel dem Mann eine Pistole aus der
Jacke.
„Oh Schreck, bitte
hab keine Angst, ich hatte nicht vor-“
Tavie unterbrach
ihn:
„Gut, darf ich die
Waffe an mich nehmen? Du willst mich doch sowieso nicht erschießen,
oder?“
„Das hatte ich
nicht vor. Gut, nimm sie an Dich, Es ist okay. Wie heißt Du?“
„Tavie.“
„Schöner Name.“
Tavie machte nicht
den gleichen Fehler wie bei dem zweiten Lennox:
„Und wie heißt
Du?“
„Lennox.“
Tavie tat überrascht
und huschte in den Küchenbereich, um Wasser heiß zu machen.
Lennox hatte das
Bedürfnis, sich zu erklären:
„Wegen der Waffe,
also, ich bin ein wenig mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Bin
angeschossen worden. Die Kugel ist glatt durchgegangen. Jetzt denkst
Du sicher, ich sei ein Schwerverbrecher, aber ich bin nur ein
blutiger Anfänger. Sag mal, Du lebst alleine hier?“
„Ja.“
„Das finde ich
nett. Es ist schön hier. Und Du warst wohl schon an sehr vielen
Orten auf der Welt, nach den Fotos an der Wand zu urteilen.“
„Woher willst Du
wissen, dass die Fotos von mir sind?“
„Das ist nicht
schwer zu erkennen. Sie haben so einen Ausdruck des Persönlichen.“
„Ich mache Dir
einen Verband, aber erst möchte ich die Wunde reinigen.“
„Ich denke, ich
werde es überleben.“
Tavie setzte sich
vor ihm nieder und krempelte sein Hosenbein hoch.
„Aua!“
„Das hat schon weh
getan? Hm, wir sind wohl ein wenig empfindlich, oder?“
„Das ganze Bein
schmerzt. Ich kann nichts dafür.“
„Mit dem Gesetz in
Konflikt und angeschossen. Wie viel Dummheit war dafür nötig?“
„Eine Menge. Dafür
dass ich die letzten Jahre so klug gewesen bin, war das ein logischer
Ausbruch an Dämlichkeit. Aber so plötzlich, so als wenn ich es mir
nicht hätte aussuchen können. Mein Gott, ich dachte dieser See hört
nie wieder auf. Aber er hat.“
Tavie schaute zu ihm
auf:
„Jeder See endet.
Sei froh, dass Du es geschafft hast.“
Lennox begriff erst
jetzt, wie seltsam diese Situation war:
„Du benimmst Dich,
als würdest Du jeden Tag Leute aus einem Boot auflesen.“
„Oh nein, nicht
ganz jeden Tag.“ sagte sie und kicherte ein wenig. „Für Dich
geht gerade alles sehr schnell, weil Du so lange herumgelegen hast,
verwundet und unterkühlt.“
Tavie säuberte die
Wunde mit einem Tuch. Lennox bemühte sich, nicht zu wehleidig zu
sein, aber es schmerzte sehr.
„Tut mir Leid,
wenn es Dir weh tut. Aber es geht nicht anders.“
„Kein Problem.“
Tavie war verblüfft,
weil dieser Mann genauso aussah wie die beiden anderen, doch in
seiner Art und in seiner Sprache sich von ihnen meilenweit
unterschied. Es war ein auf den Kopf gestelltes Déja Vu. Sie sah den
schwachen ersten Lennox in ihm, auch den feindseligen zweiten, aber
dennoch sah sie nun einen neuen Mann, und dessen war sie sich sofort
bewusst geworden, als sie ihn als den jetzigen und nicht als einen
der anderen Lennoxe erkannt hatte.
„Wenn ich wieder
laufen kann, werde ich sofort verschwinden.“
„Nicht so schnell.
Vielleicht ist die Wunde infiziert. Und vielleicht muss ich Dir das
Bein abnehmen.“
„Du willst mir nur
Angst machen, hm?“
„Ja, ein wenig. Um
Dich zur Vernunft zu bringen.“
„Ich fühle mich
so komisch. Träume ich? Oder bin ich tatsächlich hier? Bist Du
echt? Oder nur ein guter Geist?“
Tavie lächelte:
„Ich bin so echt
wie ich heute morgen aufgewacht bin. So echt wie das Boot.“
„Aber nicht so
unbequem. Willst Du gar nicht wissen, was ich angestellt habe?“
„Ich dränge Dich
nicht. Bestimmt hast Du eine sehr spannende oder traurige Geschichte
zu erzählen.Aber das ist jetzt nicht wichtig.“
„Das meinst Du
ganz ehrlich, oder? Es ist Dir egal ...“
„Nun, einer
erzählt etwas sehr Ergreifendes, damit man Mitleid mit ihm hat, ein
anderer stilisiert sich zum Helden. Und Du bist vielleicht jemand,
der es ganz nüchtern und selbstkritisch sieht. Das reicht mir für
den Moment.“
Lennox wunderte sich
über Tavies Ausführungen. Der Kamin flackerte und knisterte.
„Ich neige nun
dazu“ sagte er, „einfach alles geschehen zu lassen. Das ist
bestimmt nur ein schöner Traum, und jeden Augenblick wache ich auf
und liege wieder im Boot …“
„Schsch ...“
machte Tavie, als sie ihm den Verband anlegte. Lennox gehorchte und
sagte nichts mehr. Anschließend schob sie den zweiten Sessel so,
dass Lennox seine Füße drauflegen konnte.
„Das ist so schön
… Danke ...“
„Ich hole Dir noch
eine Decke.“
„Kannst Du, aber
im Moment geht es mir wunderbar.“
„Dann lasse ich
Dich ein wenig ausruhen.“
„Warte mal. Jetzt
mal ehrlich: Du bist wirklich echt, oder?“
„Die Schmerzen
sollten Dich davon überzeugt haben.“
„Das stimmt …“
Tavie ließ ihn ein
wenig dösen und machte sich in der Küche nützlich. Es war ein
komisches Gefühl, ihn fragen zu hören, ob sie echt war. Denn
eigentlich hätte sie ihn das ihrerseits immer wieder fragen sollen.
Obendrein bekam sie
ein Gefühl, dass sie nicht nur bei den anderen nicht gehabt, was sie
sogar mehrere Jahre nicht mehr erlebt hatte – Zuneigung.
Nächster Teil Freitag, 06.06.2014