Freitag, 28. März 2014

LORD DELUXE – Aus der Nase eines Killers TEIL X – letzter Teil



LORD DELUXE – Aus der Nase eines Killers 
 TEIL X – letzter Teil

Als seine Frau mit den Gästen erschien, man sich begrüßte und das Esszimmer betrat, war es nur Bensons Frau, der das Bild auffiel, denn die Anderen konnten nicht wissen, dass es erst gerade aufgehängt worden war. Da sie nichts vom Thema des Buchprojekts ihres Mannes wusste, assoziierte sie bei diesem Bild keinen Nasendreck, sondern zunächst ein modernes Kunstwerk. Verblüfft stellte sie ihrem Mann diverse Fragen, wollte wissen, wieso er ausgerechnet jetzt dieses Bild aufgehängt hatte, doch Benson speiste sie mit fadenscheinigen Erklärungen ab. Die Schwester von Bensons Frau und ihr Mann wollten sich um ein Urteil drücken, da sie nichts von Kunst verstanden, aber der kleine Christopher, ein eher schüchterner Junge, der die meiste Zeit am Computer saß, kannte das Bild aus dem Internet. Als er sich unbeobachtet fühlte, raunte er seinem Vater zu, das Objekt auf dem Bild sei ein Popel, was den Vater zunächst zum Lachen brachte.
Er betrachtete das Bild eingehender, wurde von seiner Frau danach gefragt, und als er daraufhin sagte, Christopher hätte auf dem Bild einen Popel erkannt, sackte die Stimmung mit der Geschwindigkeit einer langsamen Flatulenz herab, weil plötzlich allen klar wurde, dass es stimmte.
Der Braten stand dampfend auf dem Tisch, der Wein war dekantiert, und inmitten dieser sozialen, familiären Atmosphäre schlich sich das entsetzliche Gefühl ein, dass etwas Wahnwitziges geschehen war. Bensons Frau sah ihren Mann an, als sei er ein vollkommen Fremder. Die Stimmung war in ihrer Erkaltung gewürzt mit dem Schrecken darüber, dass Benson allem Anschein nach den Verstand verloren hatte.
Niemand wusste, wie man die Situation retten konnte, und Benson saß einfach da und aß ein Stück vom Braten. Christopher, mit gesundem kindlichen Instinkt gesegnet, sprang auf und lief aus dem Esszimmer. Er hatte in Gegenwart dieser konsternierten Erwachsenen einfach keine Luft mehr bekommen. Und die brauchte er nun dringend. Er lief hinaus in den Garten, öffnete das Tor und stand auf der einsamen Straße dieser ruhigen Vorort-Gegend. Natürlich verstand er das alles nicht, genauso wie die anderen, die sich noch im Haus befanden, und seine bisherigen Erfahrungen mit Erwachsenen hatten ihn auf so eine seltsame Sache nicht vorbereitet.
Niemand hing ein übergroßes Poster von einem Popel auf. Das war kein jugendlicher Scherz, kein Bonmot, schon gar nicht sachlich zu hinterfragen. Es fiel in eine Kategorie, die jede Frage ob ihres Irrsinns erstickte.
Doch wie der Popel aussah, in seiner Monstrosität und grausamen Schönheit, machte die Sache noch unheimlicher.
Ein Auto hielt etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt. Christopher beobachtete, wie ein kurzhaariger Mann in einem dunklen Anzug ausstieg und auf ihn zu kam. Christopher hatte urplötzlich ein verzweifeltes Vertrauen zu diesem Mann und bekam das Bedürfnis, ihn anzusprechen. Vielleicht hatte dieser Mann, der von irgendwo her kam und derart seriös aussah, eine Erklärung, oder noch besser eine Lösung:
„Mister, bitte ...“
Der Lord sah ihn an und sagte:
„Was liegt an, Kleiner?“
„Dort in dem Haus sind meine Eltern und meine Tante. Mein Onkel, er ist verrückt geworden.“
Der Mann lächelte dünn und sagte:
„Mach dir keine Sorgen, mein Junge. Ich erledige das.“
Der Mann tätschelte Christophers Kopf und ging zum Haus. Christopher wartete. Was konnte dieser Mann schon tun?
Der Junge wartete und wartete. Es vergingen nur knapp zehn Minuten, doch ihm kam es wie eine sehr große Ewigkeit vor.
Plötzlich kam der Mann aus dem Haus. Mit dem Bild des Popels in den Händen.
Er hatte es mit einem Tuch abgedeckt. Ohne Christopher noch einmal anzusprechen, ging er zurück zu seinem Wagen.
Sehr zögerlich, und oft wieder anhaltend, bewegte sich Christopher auf das Haus zu …

„Sir, Benson liegt dort drüben, sein Gehirn hinter ihm. Die Alte hat ein Loch im Auge, und mehrere in ihrer Vagina. Die Schwester und ihr Mann wurden vom Täter in eine verfängliche Position post mortem gebracht, direkt auf dem Esstisch. Wie sie sehen, haben sie Teile eines Bratens in ihren Mündern, die vorsätzlich dort platziert wurden.“
Kostic fragte:
„Wo ist der Junge jetzt?
„Bei Doctor Rosenthal.“
„Okay, ich will später eine Abschrift seiner Aussage sehen.“
„Klar Sir, Sie sind ja jetzt der Skipper, nachdem Linklater aus dem Rennen ist. Und Benson auch.“
„Bilden Sie sich nur nicht ein, das würde irgendwas ändern. Das ist die Handschrift vom Mullinger-Massaker.“
„Und von dem in Denver. Sir, Peebles hat dort hinten im Schrank eine gehörige Menge Geld gefunden. Das sieht nicht gut aus. Allem Anschein nach steckte unser stellvertretender Direktor mit drin.“
„Die Schlussfolgerungen überlassen sie mir, Gunnerson.“
Kostic legte den Kopf quer, so wie er es immer tat, wenn er Angst bekam. Falls Linklater und Benson mit der Mafia zusammen arbeiteten, wie viele unentdeckte Maulwürfe gab es noch? War er, Kostic, nur von Verrätern umgeben? War alles nur Schein, die ganze verdammte Behörde und das ganze verfluchte Land? Kostic, der schon immer ein wenig dazu neigte, unmittelbare Probleme in ein globales Maß zu übertreiben, ließ sich im Büro die Aussage des Jungen geben und fuhr anschließend nach hause. Dort saß seine Freundin Alice Huberman und las ein Buch über das Matriarchat.
„Sag mal, hat das ein Mann oder eine Frau geschrieben?“ fragte Linklater lächelnd.
Alice schaute ihn hinter dem Buch scharf an und fragte:
„Tut das etwas zur Sache?“
„Entschuldige, ich wollte nur Interesse zeigen.“
„Das bezweifle ich. Los, ich habe Hunger. Mach mir was zu essen!“
„Jawohl, mein Schatz. Tagliatelle, wie besprochen?“
„Ja. Musst du jedes Mal nachfragen, du Vollidiot?“
„Ich frage gerne nach, Liebling. Ich rede gerne mit dir, weil ich dich liebe.“
„Ich liebe dich auch. Und jetzt ab in die Küche!“
Linklater lächelte und gehorchte. Auf dem Weg zur Küche klingelte sein Handy. Die Nummer war nicht gespeichert.
„Wer ist da?“
„Agent Kostic, mein Name tut nichts zur Sache. Genauso wenig wie das Geschlecht des Autors von dem Buch, dass ihre Freundin liest.“
„Woher wissen sie-“
„Seien sie still und hören sie zu. Ist ihnen schon einmal aufgefallen, dass die Pension für ehemalige FBI-Beamte ziemlich lächerlich ist?“
„Was soll diese Frage?“
„Es gibt Möglichkeiten, das zu ändern. Mit einem kleinen Zubrot.“
Linklater wollte dem Anrufer sofort seine Meinung sagen und versprechen, dass man ihn und seine Hintermänner schnappen würde, aber er wurde davon abgelenkt, dass sein rechtes Nasenloch völlig verstopft war. Das konnte er nicht ignorieren.
„Bleiben sie bitte für eine Sekunde dran!“ sagte er in sein Handy, steckte sich den Zeigefinger in die Nase und begann, darin herum zu wühlen. Nach anfänglichen Ausrutschern konnte er das Objekt mit dem Fingernagel einhaken und herausziehen. Es war ein typischer Globetrotter.
Kostic schnalzte ihn so schwungvoll von sich, dass der Popel durch die Flexibilität seines glibbrigen Anteils weit weg flog, geradewegs auf Alice zu.
„Mr Kostic, sind sie noch dran?“
Kostic sah, wie das Objekt im Haar von Alice landete, ohne dass sie es merkte.
„Agent Kostic, schon mal über 20.000 im Monat nachgedacht? Treffen sie sich doch mal mit unserem Kontaktmann.“
Kostic erinnerte sich, was er in der Aussage des Jungen gelesen hatte. Etwas über ein Bild mit einem großen Popel. Und dann erinnerte er sich auch an das Ding in Misses Paradopoulos' Gefrierschrank. Er konnte sich auf das alles keinen Reim machen. Doch mit irdendeiner Art von seltsamer Phantasie kam ihm die Idee, dass Bedeutung immer wieder ihre Perspektive wechselte. Dass sie geradezu kapriziös war. Linklater hörte sich an, was der Mann am anderen Ende vorzutragen hatte.


© Guido Ahner 2013

Freitag, 21. März 2014

LORD DELUXE – Aus der Nase eines Killers TEIL IX


LORD DELUXE – Aus der Nase eines Killers 
 TEIL IX

Das Haus war zuvor von einem deutschen Schlagersänger gemietet worden und hatte nun zum zweiten Mal als Unterschlupf für Kronzeugen gedient.
Linklater stand im Wohnzmmer und betrachtete die falschen goldenen Schallplatten an der Wand, mit denen der Sänger vor seinen amerikanischen Gästen prahlen wollte. Linklater sprach natürlich kein deutsch und und konnte Titel wie „Ich hasse meine Liebe zu Dir“ und „Sei kein Schwein, gib mir Wein“ nicht lesen.
Diesmal hatte der Killer einen der FBI-Agenten leben gelassen. Er gehörte zu den Beamten des Periphär.-Teams, das draußen vor dem Haus postiert war. Der arme Mann, ein gerade mal 27 jähriger New-Be, der gerade seinen Abschluss bei der Akademie gemacht hatte, war bereits in psychologischer Betreuung. Es war ihm kein einziger verdächtiger Laut an die Ohren gedrungen, als er draußen an der Hintertür Wache gestanden hatte. Im Innern des Hauses bot sich das übliche Bild, ähnlich wie in L.A., doch diesmal wurden keine Nachbarn getötet, da es hier zu viele davon gab. Alles hatte leise und schnell geschehen müssen. Der Kronzeuge Benito Estevez und sechs Bundesagenten lagen tot in Wohnzimmer und Flur. Dem Kronzeugen wurde post mortem explizit in die Genitalien und das Rektum geschossen.
„Agent Drexel, sie haben zuvor unsere Analyse studiert. Gibt es irgendwelche signifikanten Abweichungen zu dem Fall in L.A.?“
„Mein lieber Kollege, nicht die Abweichungen sollte uns beschäftigen, sondern die Gemeinsamkeiten. Haben sie eigentlich noch keine Nanosekunde darüber nachgedacht, dass es in ihrem Laden vielleicht eine undichte Stelle gibt?“
Der Agent aus Denver besaß eine einschüchternde Wirkung auf den schmächtigen Linklater.
„Ja, aber sagen sie es nicht zu laut. Wir haben natürlich darüber nachgedacht. Aber es gibt keine potentiellen Verdächtigen für einen Maulwurf.“
„Die gibt es nie, sie Idiot.“
Der Agent aus Denver drehte sich um und ließ eine Flatulenz in Linklaters Richtung fahren. Ihm war schon bei seiner Ankunft aufgefallen, dass die Kollegen in dieser Stadt auffallend häufig Gase abließen. Linklater besaß eine schelmische Phantasie und stellte sich vor, diese Geräusche und Gerüche einmal offiziell für die Nachwelt festzuhalten und zu vergleichen. Es gab bestimmt Gemeinsamkeiten, Übereinstimmungen, die auf Geschichte und Charakter einer Person schließen lassen konnten.
Linklater fuhr nach der Untersuchung in sein Hotel und bestellte sich eine große Peperoni-Pizza, von der er sich einige Gasbildungen erhoffte.
Gegen neun Uhr abends bekam er einen Anruf vom Büro in Denver. Er sollte bitte schleunigst vorbeikommen, weil sich einige wichtige Fragen aufgedrängt hatten.
Ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen, machte sich Linklater auf den Weg und wurde eine halbe Stunde später in Gewahrsam genommen. Er stand in dem Verdacht, mit den Auftraggebern der Morde in Verbindung zu stehen. Nun, vollkommen erschlagen von dieser Anschuldigung und allein in einer Zelle sitzend, wurde ihm alles klar: Benson war der Informant. Nur er konnte es sein, und Benson hatte dafür gesorgt, dass nun er, Linklater, im Visier der Ermittlung stand.

Benson schrieb eine E-Mail an den Lord, an dieselbe Adresse, die das Foto mit dem schönsten Polpel der Welt, den, wie Benson ihn nannte, Lord Deluxe, geschickt hatte:
„Du bist so erhaben über allem, nicht wahr? Jedenfalls fühlst Du Dich so. Wir schaffen uns unsere Illusionen, jeder für sich selbst, jeder wie ein Stern in dieser Galaxis. Hast Du schon gewusst, dass jeder Stern für ein Menschenleben steht? 100 Milliarden Sterne für 100 Milliarden Leben, die auf Erden schon gelebt wurden. Aber bedenke, vielleicht ist das ganze Universum eine Illusion. Und wenn dem so ist, sind die Bedeutungen, die wir den Dinge geben, gar nicht weniger wert, sondern bleiben so wie sie sind, unangetastet. Und wir können damit die Menschen beeinflussen.“

Benson klickte auf „Senden“ und ging ins Wohnzimmer.
Man erwartete Gäste. Bensons Frau war gerade unterwegs, um ihre Schwester, ihren Mann und deren zehnjährigen Sohn Christopher vom Flughafen abzuholen. Benson hatte die Aufgabe, den Braten im Ofen im Auge zu behalten. Er hatte Tags zuvor das Foto des „Lord Deluxe“ in einem Copyshop auf DIN- A2 aufziehen lassen und einen goldfarbenen Rahmen gekauft. Nun hing das Bild wie ein Kunstdruck im Esszimmer an der Stirnwand, und Benson richtete einen der kleinen Halogenleuchten darauf, damit es voll zur Geltung kam. Eine schöne Überraschung sollte es werden …

Letzter Teil am Freitag, den 28.03.2014



Montag, 17. März 2014

OSCULUM - Inhaltsbeschreibung und Leseprobe


Roman
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382 S.
13,49 €


Inhalt:

Im Roman TELUM befand sich Laenatus noch im Bauch der Mutter, zu Beginn des Romans OSCULUM ist er ein 50 jähriger Mann, der nach einem mysteriösen Attentat von seinem unberechenbaren Sohn Gemellus als Oberhaupt der Familie abgelöst wird.
Das Haus der Verginier trauert um den verstorbenen Hausherrn, ganz besonders Gemellus' jüngere Schwester Crispina, die ausgerechnet am Tag des Unglücks ihren 16. Geburtstag feiert. Kurz vor seinem Tod traf Laenatus seinen verschollenen Halbbruder Regulus, der nun, zur Überraschung der Hinterbliebenen, in der Villa auftaucht. Während Gemellus befürchtet, dieser Onkel würde ihm die Stellung des Hausherrn streitig machen, macht sich Crispina mit der Tatsache vertraut, nun einen eigenen Lzsrtknaben, ein Geburtstagsgeschenk des Kaisers, in ihrer Obhut zu haben. Die Gespräche mit ihrem Onkel, das tyrannische Verhalten ihres Bruders und der Reiz des Jünglings verwirren die junge Frau, bis eines Nachts eine unfassbare Schandtat an ihrer Seele alle trivialen Sorgen und Nöte hinwegspült und sie, ohne nachzudenken, aus der Villa flieht, hinein nach Rom, ohne Geld und ohne Ziel.
In ihrem Kopf reift der Plan für eine grimmige Rache, doch sie braucht Hilfe. Crispina schließt sich der Giftmischerin Licina an, einer hohen Persönlichkeit in Roms Unterwelt. Doch um ihre Hilfe zu bekommen, muss sie ihren Stand aufgeben sich der verbrecherischen Frau unterwerfen ...



AUSZUG:

Kapitel „Rom“, S. 186

Das Forum wurde östlich vom Bau des Marcellus-Theaters abgegrenzt, und in der südlichen Ecke des Platzes stand die Columna Lactaria, die Milchsäule, zu deren Sockel seit Urzeiten Neugeborene ausgesetzt wurden.
Und dort spielte sich gerade ein kleines Drama ab. Eine Frau zerrte an einem Mann, flehend und bettelnd, er möge es sich doch anders überlegen. Aber der Mann, mit einem eingewickelten Neugeborenen im Arm. zeigte keine Gnade und ließ die Frau von zwei Sklaven in Schach halten, während er das Kind an der Säule ablegte.
Das Geschehen fand kaum Beachtung bei den Passanten, und erst als die Sklaven die Frau fortschafften und der Mann sich ebenfalls entfernte, blieben vereinzelt Menschen an der Säule stehen und begutachteten das Kind. Crispina konnte erkennen, wie die winzigen Ärmchen aus dem weißen Stoff herauslugten und umher fuchtelten. Eine Frau mittleren Alters mit einem kräftigen schwarzen Sklaven hob das Kind in die Höhe, und der Sklave schob den Stoff beiseite, damit sie sehen konnte, welches Geschlecht es hatte. Doch sie schüttelte enttäuscht den Kopf und legte das Kind wieder auf den Boden. Nun wusste Crispina, dass es sich um ein Mädchen handelte. Nachdem auch die Frau mit ihrem Sklaven wieder verschwunden war, schlich ein herrenloser Hund um die Säule herum und schnüffelte an dem Kind. Crispina wollte hinrennen und den Hund verscheuchen, doch zum Glück schien er sich ebenfalls nicht für das Kleine zu interessieren und machte sich davon.
Crispina überlegte. Sie konnte das Kind mitnehmen und bei einem Sklavenmarkt oder einem Pädagogium für die Sklavenschulung anbieten. Mit viel Glück würde sie ein wenig Geld dafür bekommen, ungefähr soviel wie für die Ziegen.
So ein Bild von einem alleingelassenen Kind war völlig alltäglich und die Sublatio nicht illegal, doch für Crispina stellte dieser trostlose Anblick ein Symbol für Hoffnungslosigkeit dar. Für einige Momente wurde sie von dem Bild gefangen und war unfähig, sich zu lösen. Und schließlich, als wenn es nicht schon genug Kummer gäbe, kam ein Ehepaar herbei und setzte ein weiteres Kind an der Säule ab. Die vermeintliche Mutter wickelte ihr Kind aus dem Tuch und legte es völlig nackt auf den kalten Steinboden. Nach einem kurzem Wortwechsel nahm sie das erste Kind, wickelte auch dies aus dem schützenden Leintuch und machte sich mit ihrem Mann samt den Tüchern davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Crispina lief zu der Säule. Die beiden Neugeborenen lagen zu ihren Füßen und schrien. Das Zweite, dessen Eltern schon das Weite suchten, war ein Junge.
Es kostete Crispina einige Überwindung, doch schließlich kniete sie sich nieder, streifte sich den Umhang ab und wickelte den kleinen Buben vorsichtig darin ein. Beinah hätte sie zu ihm gesprochen, doch sie wollte das Kind nicht als Menschen wahrnehmen, nur als Möglichkeit, ein paar Kupfermünzen zu verdienen. Als sie den Säugling hochhob, wunderte sie sich, wie leicht er war. Noch nie zuvor hatte Crispina ein Neugeborenes auf den Armen getragen. Der Junge schrie mit einem dünnen, heiseren Stimmchen, und Crispina drückte seinen Kopf an ihr Herz, damit er den Schlag hören konnte.
Der Säugling war so klein, und sein Organ so sägend und heiser, dass Crispina kaum glauben konnte, dass so ein winziger Körper solch eine Stimmkraft erzeugen konnte. Das Gesicht war vom vielen Weinen so gerötet und knautschig, das winzige Wesen so bemitleidenswert, dass Crispina dem Buben spontan den eigenen Daumen in das zahnlose Mündchen steckte. Das Neugeborene begann sofort zu saugen, und so konnte es nicht mehr schreien.
Sie sah sich um. Niemand beachtete sie. Es war ein seltsames Gefühl, nun ohne den tarnenden Umhang in ihrer teuren Tunika auf diesem Platz zu stehen, und es würde nicht lange dauern, bis jemand auf sie aufmerksam wurde. Wenn der kleine Bub Geld einbrächte, dann nur, weil Crispinas Tunika das Indiz für eine bessere Herkunft darstellte. Das zerbrechliche Geschöpf, so nah an ihrem Leib, wirkte verstörend, doch sie kämpfte jedes Gefühl der Fürsorge und Zuneigung nieder, mühte sich jedoch, das Köpfchen des Säuglings nicht hängen zu lassen und es vor allen Rempeleien zu schützen.
Sie ging am Fuße des Capitolhügels an verschiedenen Tempeln und beinah direkt am berüchtigten Tarpejischen Felsen vorbei, der sich grimmig bis zu den Tempeln des Capitols emporreckte. Von diesem Felsen hatte man schon unzählige Verräter hinab gestürzt, nachdem man dies in der Gründungszeit der Stadt mit der unseligen Tarpeja getan hatte.
Crispina wusste in etwa, wo man Neugeborene gegen ein bisschen Geld eintauschen konnte, und suchte den Vicus Tuscus, der, vorbei am Markt des Velabrums, direkt zum Forum Romanum führte. Sie zog versuchsweise den Daumen aus dem Mund des Säuglings, und zu ihrer freudigen Überraschung blieb er ruhig.
Der Verlauf der Menschenmenge und die Art der Händler wiesen ihr den Weg. Crispina erblickte mehr und mehr Strichjungen mit bemalten Leibern und eindeutigem Gehabe, sah Leute mit angeketteten Sklaven und immer mehr Vigiles der Stadtkohorten, die mit teils müdem, teils grimmigem Blick die Bürger beobachteten. Crispina hatte auch längst die vielen Blicke registriert, die sie auf sich zog, und so oft sie konnte, versteckte sie sich hinter einem oder mehreren großen Menschen, um nicht aufzufallen.
Beim Tempel von Castor und Pollux, direkt an der Südseite des Forums, wähnte sie sich am Ziel. Sklaven aus allen Ländern standen auf Drehbühnen. Einige von ihnen hatten mit Gips eingeschmierte Füße, fast alle waren nackt.
Die Drehbühnen waren grob nach Art der Sklaven geordnet. Es gab eine Gruppe für Haussklaven, eine für Liebesdiener, Kämpfer, und nur zwei für Gebildete.
Jede Frau und jeder Mann trug ein Schild um den Hals. Crispina las:
"Ansehen und schwängern!"
"Spielt Wasserorgel"
"Ornatrix"
"Pferde gehorchen ihm!"
"Koch"
"Versehrter Gladiator - Priapus!"
"Enthaart ohne Schmerz!"
"Isst Steine bei Convinien. Ha ha ha!“
"Tut alles"
"Kann alles außer sprechen“
Die Anbieter besaßen geschulte Schreistimmen und wetteiferten mit ihren Angeboten, variierten allerlei Tricks, um die Blicke der Menge auf sich zu ziehen und versuchten immer wieder, die Zähigkeit ihrer Ware zu demonstrieren, in dem sie sie schlugen oder an den Haaren zogen. Einer der Sklaven begann zu singen und wurde von einem Stein am Kopf getroffen, was ein kleines Handgemenge auslöste, das von drei Vigiles unterbunden werden musste. Unter den vielen Menschen wanderten Bauchladenträger und verkauften Weinbecher und Kleinigkeiten zum Verzehr. Ein Sklavenmarkt war immer auch ein Ort der Unterhaltung, und nur etwa die Hälfte der dort versammelten Leute wollten tatsächlich etwas kaufen.
Crispina, die ein wenig aufgemuntert dadurch war, dass ihr Findelkind bei einigen Besuchern des Marktes Aufmerksamkeit erzeugte, rief:
"Ein Junge! Ein Junge aus gutem Hause! Zehn Sesterzen! Ein Junge aus gutem Hause!"
Als die Leute hörten, wie viel Geld Crispina für den Buben verlangte, winkten viele ab, einige bellten sie höhnisch an. Lediglich einige Frauen gesellten sich zu ihr und ließen sich den Jungen zeigen, schienen jedoch beim zweiten Blick mehr interessiert an Crispinas Tunika, als an dem Kind.
Ein aufmerksamer Stadtwächter, der Crispina schon einen Augenblick beobachtet hatte, rief ihr zu:
"He, kommt mal zu mir, junge Frau!"
Crispina gehorchte. Der Mann machte einen ganz netten Eindruck, obwohl seine Rüstung beängstigend wirkte. Kritisch fragte er:
"Ist das Kind registriert?"
"Registriert?" Crispina wusste natürlich, dass man Sklaven eintragen lassen musste, aber ein Neugeborenes? Außerdem hatte Crispina keine Ahnung, wo solch eine Registrierung von statten gehen sollte.
Der Wächter erkannte, dass Crispina im Sklavenhandel völlig ahnungslos war:
"Ihr müsst ein neugeborenes Sklavenkind anmelden, junge Dame. Das wusstet ihr nicht?"
Sie fand den Mann sympathisch, und sein sanfter Ton verführte sie dazu, ein wenig ehrlicher zu sein:
"Hört, ich bin die Tochter eines bedeutenden Mannes, und dieses Kind dürfte eigentlich gar nicht existieren, wenn ihr versteht was ich meine."
Ungeschickt zwinkerte sie dem Mann zu, wie eine Komplizin.
"Doch meine Barmherzigkeit hat mich gezwungen, es zumindest jemandem zu geben, der es erzieht. Ich wollte es nicht einfach irgendwo liegen lassen."
"Warum verschenkt ihr es nicht? Wieso preist ihr es für zehn Sesterzen an?"
"Äh ... Ich brauche etwas Geld für ..."
"Verkauft doch eure Tunika. Für die bekommt ihr sicher ein paar neue Denare."
"Das- das geht auf keinen Fall!"
Die Tunika war der letzte ihr verbliebene Beweis für ihre Herkunft, und den wollte sie um keinen Preis verlieren. Der Wächter überlegte. Sein Gesichtsausdruck verdunkelte sich, als er sagte:
"Was seid ihr nur für ein Mensch?"
"Wieso?"
"Das Kind ist von der Milchsäule, richtig?"
"Wie kommt ihr denn darauf?"
"Wisst ihr, meine Frau und ich haben einst ein Neugeborenes von der Säule aufgelesen, weil uns unser Kinderwunsch von den Göttern nicht erfüllt wurde. Und dieses Kind ist heute unsere fünf Jahre alte Tochter, auf die wir beide sehr stolz sind. Wenn Menschen Kinder an der Milchsäule auflesen, dann aus Mitleid oder weil sie sich sehnlichst Nachwuchs wünschen. Was ihr tut, junge Frau, in eurem feinen Stoff hier herumzulaufen und ein Findelkind gegen Sesterzen eintauschen zu wollen, bringt mich fast zum Kotzen. Schämt ihr euch denn gar nicht?"
Doch, sie schämte sich. Eingeschüchtert fragte sie den Stadtwächter:
"Wollt ihr vielleicht das Kind nehmen?"
Diese Anfrage stieß bei dem Mann auf völlig taube Ohren. Mit einer abweisenden Handbewegung sagte er kühl:
"Mein bester Rat für euch ist, den kleinen Buben so schnell wie möglich wieder vor der Milchsäule abzuliefern, oder ich melde euch wegen des Vertriebs von unregistrierten Sklaven an die Praefektur. Ich kenne nun euer Gesicht. Wenn ich euch noch einmal hier mit einem Säugling erwische, seid ihr dran."
Crispina lief ein übler Angstschauer über den Rücken. Auf dem Absatz machte sie kehrt und floh. Sie huschte so schnell sie konnte durch die Passantenmenge und lief den Weg zurück, an den kleinen Tempeln und am Tarpejischen Felsen vorbei, zum Forum Holitorium. Als der Junge wieder zu schreien anfing, steckte sie ihm erneut ihre Daumenspitze in den Mund.
Im Angesicht der Tempel der Juno, des Janus und der Spes legte sie mit finsterer Bitternis das Kind unter der Columna Lactaria ab. Ihren Daumen entließ sie aus dem warmen, kleinen Mündchen, und die Feuchtigkeit seines Speichels an der Luft verursachte bei ihr eine Gänsehaut.
Das andere Kind, das Mädchen, lag ebenfalls noch dort. Sie wickelte den kleinen Jungen aus dem groben Leinenstoff und benutzte ihn wieder als schützenden Umhang. Sie spürte, dass ihr ein paar Tränen entglitten, doch konnte sie nicht genau sagen, ob es Tränen des Mitleids, des Verdrusses über ihr Versagen oder der Einsamkeit waren. Sie ließ das kleine Etwas schreiend und nackt auf dem Steinboden liegen und rannte instinktiv in den kleinen Tempel der Juno hinein, ein Pendant des Tempels, in dem ihr Vater vor kurzem zu Tode gekommen war.

Bebend vor Scham starrte Crispina in das Gesicht der Juno-Statue.




Am Freitag Teil IX von LORD DELUXE


Donnerstag, 13. März 2014

LORD DELUXE – Aus der Nase eines Killers TEIL VIII (von X)


LORD DELUXE – Aus der Nase eines Killers 
 TEIL VIII (von X)

Benson saß zu Hause und arbeitete an seinem Buch. Er hatte schon 150 Seiten zusammen, und so langsam stellte sich bei ihm ein Gefühl des Stolzes ein. Er, der damals auf der Akademie vor jeder schriftlichen Arbeit Schweißausbrüche bekommen hatte, schrieb nun wie ganz selbstverständlich ein Buch, darüber hinaus über ein Thema, über das es so gut wie keine seriöse Literatur gab. Was jedoch seine Euphorie ein wenig trübte, war dieser Anruf von Linklater. Man hatte Misses Paradopoulos erschossen in einem Hotelzimmer aufgefunden. Nun wurde die ganze Ermittlung wegen ihrer eventuellen Verbindung zu dem Mullinger-Massaker wieder aufgewärmt.
Benson gesellte sich zum Abendessen zu seiner perfekt ondulierten Frau und aß mit ihr Nackensteak mit Kroketten und einer tristen braunen Soße.
Dann bekam er einen neuen Anruf. Man hatte nun die Wohnung von Paradopoulos durchsucht und in ihrem Gefrierfach ein Tupperdöschen mit einem seltsamen Objekt gefunden. Linklater äußerte den Verdacht, es sei irgendein totes Tier oder eine seltene Frucht, doch Benson bestand darauf, den Fund selbst in Augenschein zu nehmen und fuhr sofort zum Büro. Er hatte sogar vergessen, seine Hausschuhe durch normale Straßenschuhe einzutauschen.
Ja, der Popel in Paradopoulos' Gefrierschhrank war schön, aber nicht zu vergleichen mit dem Meisterwerk auf dem Foto des Lords. Im Büro wusste niemand, dass er an diesem Buch schrieb, und er wollte es auch nicht an die große Glocke hängen. Es würde sowieso unter einem Pseudonym erscheinen.
Benson gab grünes Licht, den bereits halb aufgetauten Popel zu entsorgen. Auf dem Weg nach Hause überlegte er, ob er den Lord anrufen sollte, hatte aber Angst davor, nachdem er ein paar Stunden zuvor seine Mailbox abgehört hatte. Man musste die Drohungen dieser Leute ernst nehmen, egal ob man Direktor beim FBI war oder gar Präsident der Vereinigten Staaten.
Ob Washington und Lincoln schöne Popel gehabt hatten? Vielleicht besonders Schöne in ihren schwierigsten Momenten als Staatsgründer und Präsident? Nach besonders harten Entscheidungen und bedeutenden Reden … Vielleicht hatte Lincoln nach Gettysburg einen besonders Markanten zu Tage fördern können. Länglich, grimmig verbogen, klebrig und mit Kanten, die vielleicht ein kleines Nasenbluten verursacht hatten.
Benson wusste nun, dass Paradopoulos Bücher über außergewöhnliche Dinge gesammelt hatte, auch über große Persönlichkeiten. Wie sah ein Popel von Julius Caesar aus? - Von einem wie ihn, weit gereist, acht Jahre an gallischer Front und schließlich den Geruch Roms in seinem größten Triumph einatmend? Ein Popel wie ein Onager, wie die Schildkrötentaktik der Legionäre ...
Churchills Nase bot durchaus genug Platz für eindrucksvolle Exemplare. Wobei ein Popel von beispielsweise Marcel Proust nur jämmerlich und cremig daher kommen würde, weil der arme Mann jahrelang im Bett verbracht hatte. Benson dachte darüber nach, wie die Popel von Sträflingen aussahen, oder die von Soldaten auf Kuba. All das hätte schon längst untersucht werden müssen.
Und er wusste immer noch nicht, ob Tote Popel bilden. Selbst er, der ständig mit Toten zu tun hatte, immer Kontakt zu forensischen Medizinern pflegte, war darüber nie in Kenntnis gesetzt worden.
So vieles lag noch im Unbekannten, und der stellvertretende FBI-Direktor Benson wusste um den Lord und verschaffte ihm seine Aufträge, verriet seine Behörde für eine gar nicht mal so hohe Summe Geld, gerade genug, um ihn gierig zu halten.

Den Weg nach Denver nutzte der Lord, um seine Mutter zu besuchen. Sie war für ihre 83 Jahre sehr rüstig und half gerne bei jungen Eltern im Haushalt mit und verdiente sich ein paar Dollar dazu.
Sie liebte es, französisch zu kochen und bereitete ihrem Sohn ein fantastisches Ratatouille, für das allein es sich schon lohnte, die fröhliche alte Dame zu besuchen.
„Timmy, ich glaube du brauchst einen neuen Rollkragenpulli. Der da ist ja schon völlig speckig. Den kriegst du nicht mehr sauber.“
„Du, das soll so aussehen, das ist so ein neuer Trend, der-“
„Ach erzähl mir doch keine Märchen. Du immer mit deinen Lügengeschichten. Bist du immer noch Vertreter? Das tut dir nicht gut, du brauchst eine Frau, etwas Festes. Du siehst immer so unglücklich aus.“
„Ich bin zufrieden, Ma. Mach dir keine Sorgen.“
„Zufrieden sind auch Kühe auf der Weide. Ich sprach vom Glücklichsein.“
„Ich arbeite daran, Ma.“
„Hast du immer noch dieses Problem mit deinem Harndrang? Nie sprichst du darüber.“
„Nein, ich habe mich behandeln lassen, Ma. Es ist alles in Ordnung. Das Ratatouille ist köstlich. Aber ich schaffe nicht alles ...“
„Ich packe dir was davon ein. Es freut mich doch, wenn es dir schmeckt.“
„Das ist lieb, danke.“
„Hast du nicht auch was für mich?“
Der Lord lächelte geheimnisvoll und fischte eine kleine Aluverpackung aus seiner Brusttasche. Seine Mutter gab einen spitzen Laut von sich:
„Du hast daran gedacht! Timmy, du bist der beste Junge der Welt! Du ahnst nicht, wie glücklich du mich damit machst ...“
Der Lord – Timmy – ging zu seiner Mutter zur anderen Seite des Esstisches, gab ihr einen Kuss auf die Wange und überreichte ihr die Aluverpackung. Die Mutter, entzückt wie ein junges Mädchen, faltete die Verpackung auf und blickte auf einen etwa vier Zentimeter langen, von bräunlich zu hellgelb schattierten Globetrotter, einen Popel besonderer Güte.
„Nun hast du diese große Nase. Wo kommt die nur her? Na ja, es heißt ja, dass die Ohren und die Nase immer weiter wachsen, auch im Alter. Bei dir gab es wohl einen Schub … Du weißt es noch allzu gut, nicht wahr? Wie ich sie damals, als du klein warst, aus deiner süßen Stupsnase geknabbert habe. Ich habe immer eine kleine Pinzette benutzt und dir nie weh getan. “
Timmy lächelte:
„Doch, ein einziges Mal, aber das war meine eigene Schuld. Ich habe mit dem Kopf gezuckt.“
„Und nun diese Prachtstücke. Man sollte sie mal irgendwo ausstellen.“
„So etwas ähnliches habe ich auch vor, Ma. Aber so lange du dich weigerst, dir Internet zuzulegen, wird es dir verborgen bleiben.“
Seine Mutter zuckte mit den Schultern.
Der Lord sah ihr dabei zu, wie sie mit einem kleinen Silberlöffel den ausdrucksstarken Popel mit winzigen Bissen, um dem Genuss Raum zu geben, verzehrte.
Er wollte ihr ein paar Dollar zur Unterstützung geben, aber sie lehnte ab. Er könnte sie mit seinen Honoraren komplett finanzieren, aber sie war eine selbstständige stolze Frau, die sich über die Inhalte seiner Nase mehr freute als über die seiner Brieftasche.
In seinem alten Kinderzimmer schlief der Lord – Timmy – so gut wie lange nicht mehr, und zum ersten Mal seit seinem 14. Lebensjahr masturbierte er mal wieder in eine seiner getragenen Socken.

Er freue sich auf Denver, weil er dort ein paar Leute kannte und alte Zeiten aufleben lassen konnte. Aber zuerst musste der Job erledigt werden.


Nächster Teil Freitag, 21.03.2014 

Donnerstag, 6. März 2014

LORD DELUXE – Aus der Nase eines Killers TEIL VII


LORD DELUXE – Aus der Nase eines Killers 
 TEIL VII

Benson zog sich für eine Minute zurück und hantierte an seiner Nase herum.
Die Kollegen hörten nur, wie er sagte:
„Das ist echt ein Trauerspiel“ und dachten, es bezog sich auf diesen Tatort. Doch mit dem Wort Trauerspiel war die Lage nicht genügend beschrieben. Die Männer vom FBI wurden vor einer Stunde von der örtlichen Polizei hinzugezogen, weil es sich offensichtlich um den selben Täter handelte wie bei dem Mullinger-Massaker.
Der Anwalt Jonathan Kirby hatte eine zehn Jahre alte Tochter, und als die von der Schule kam und ihr rosafarbenes, plüschiges und mit Postern von Pferden behangenes Zimmer betrat, erlebte sie das Trauma ihres Lebens. Das Zimmer, so süß und bunt und so in einer heilen Welt existierend, dass man dort zu keinem bösen Gedanken in der Lage wäre, war voller Leichen.
Ein Mann in einem blauen Jogginganzug, dessen Farbe sehr gut zu dem pinkfarbenen Teppich passte, lag mit ausgebreiteten Gliedern auf dem Fußboden, mit dem Gesicht nach oben. Ein anderer Mann saß tot in einem überdimensionalen Plüschsessel, der ein wenig an einen Winterhandschuh erinnerte. Dieser Mann trug nur eine Badehose und hatte ein schwarzrotes Loch vom Durchmesser einer Grapefruit in der Brust. Aus der Tür ihres kleinen Badezimmers ragten die Beine eines weiteren Mannes. Und obendrein lag einer, der als einziger einen schwarzen Anzug trug, auf dem Kinderbett. Auf seiner Stirn erkannte man ein präzises Einschussloch.
Da das Fenster den ganzen Vormitteg verschlossen war, hatte es schon zu stinken angefangen, und Kirbys Tochter, die verständlicherweise ziemlich verstört war, wurde schon von einer Psychologin betreut. Die Leute von der Spurensicherung waren beinah fertig, als Benson wieder dazu kam und sich die Leiche auf dem Plüschsessel genauer betrachtete.
Er verlangte nach einer Lupe und hielt sie dem toten Mann unter die Nase.
„Haben Sie etwas entdeckt?“ wollte Linklater wissen. Benson antwortete nicht und sagte zu einer Dame von der Spurensicherung:
„Pinzette bitte!“
Mit dem feinen Werkzeug holte er etwas aus der Nase der Leiche heraus und beförderte es in eine Art Reagenzglas. Es war ein gutes Exemplar, anmutend wie ein Meander aus sanftem Grün, weich, aber intakt. Die Konsistenz erlaubte es, ihn zu nehmen und zu transportieren. Er war wie Gummi und verriet somit, dass er schon eine Weile in dieser Nase gewohnt hatte.
„Ich will, dass sie den Popel analysieren. Finden sie heraus, aus was für Inhaltsstoffen er besteht. Und beschädigen sie ihn nicht, ich werde ihn nach ihrer Untersuchung für mein eigenes Büro in Anspruch nehmen.“
Er wandte sich an Linklater. Der sagte:
„Anwalt Kirby hatte diese Männer in sein Haus eingeladen, um über die Taktik im Polako-Fall zu diskutieren. Kirby selbst ist nichts passiert. Er befand sich zur Zeit der Morde unterwegs, um seine Frau abzuholen und hat die Herren für eine halbe Stunde allein gelassen. Erst dachten wir, der Killer hätte sie unten im Büro umgebracht und dann hier hinauf geschleppt, aber alles deutet darauf hin, dass sie sich hier aufgehalten haben. Im Kinderzimmer.“
Benson blickte zur Decke. Dort hing ein Mobile mit Pferde- und Katzenfigürchen. Eines der Katzenfigürchen hatte einen Spritzer Blut abbekommen.
„Nein, er hat sie hinauf gelockt. Vielleicht hat er verdächtige Geräusche gemacht. Ich gehe mal runter, muss privat telefonieren.“ sagte Benson und eilte hinaus.
Er wählte mit seinem Handy über eine Umleitung die Nummer des Lords. Doch der ging nicht ran.

„Für einen besonders schönen Popel muss man viel unterwegs sein, mein Liebling“ sagte der Lord, als er im Zimmer des Ambassador-Hotels zwischen Chariklias Beinen lag.
„Ja, das kann ich mir vorstellen. Darf ich mal bei Dir suchen?“
„Ich habe eine freie Nase, mein Schatz. Ich räume immer sehr gewissenhaft. Mir bedeuten diese Dinge nicht so viel. Was bedeutet der Raupe die Seide? Sie entsteht ganz natürlich und von selbst. Leute wie Benson erhöhen sie nur aus Dummheit und Mangel an Phantasie. Für einen Sänger gehört der Gesang zu seinem Leben wie die Luft zum Atmen. Andere himmeln ihn dafür an. Wir nutzen unsere Fähigkeiten, um die geistig Schwachen zu erfreuen und uns Untertan zu machen. Aber wer in diesem Schema denkt, ist in meinen Augen ein kleines bedauernswertes Würstchen. Ich halte alles für der übermächtigen Willkür unterworfen, und Bedeutung ist eine Illusion. Nichts hat Bedeutung.“
„Aber was ist mit deinem Akt des Tötens? Du verschaffst den Leuten durch ihre Ermordung eine höhere Bedeutung.“ sagte sie, obwohl sie nicht mehr so recht dran glaubte.
„Ja, das habe ich Dir letztes Mal erzählt. Aber im Ernst: Das ist doch total lächerlich. Das ist nur eine gedankliche Spielerei von mir, die noch nicht mal von einem verzweifeltem Willen zur Rechtfertigung angetrieben wird. Es ist nur ein Konstrukt. Hast du das alles ernst genommen?“
Der Lord stieg von Chariklia herunter und goss sich ein Mineralwasser ein.
„Ich habe darüber nachgedacht“ sagte Chariklia, „Und zuerst hat es für mich Sinn ergeben,“
„Das sollte es auch, meine hellenische Blume. Du kannst es benutzen und vielleicht etwas daraus entstehen lassen. Vielleicht legst du dir ein schönes Hobby zu, Häkeln oder Stillleben Malen. Für Dich ergibt es Sinn, für mich ist es nur eine Art Inszenierung für meinen verspielten Geist. Glaub mir, alles ist vollkommen egal, bedeutungslos. Und die meisten Menschen brauchen einen konstruierten Sinn, weil sie arme kleine Schweine sind, alle miteinander, nimmt man mal die Außergewöhnlichen wie Einstein oder Archimedes oder Da Vinci heraus, die ihre Umwelt wirklich bereichern konnten, aber ob ihr Schaffen tatsächlich etwas bedeutet, kann einem nur ein hypothetischer Gott sagen, und der schweigt. Leute wie ich sorgen dafür, dass er das Maul hält. Er ist so sprachlos ob seiner Schöpfung, so gelähmt zu wissen, dass er von allen kleinen Würstchen das kleinste und gleichzeitig größte ist, weil er sich einbildete, etwas Bedeutsames geschaffen zu haben. Vielleicht hat ihn aber schon längst ein schwarzes Loch aufgesogen.“
„Dennoch, mein Lord, trotz allem, im Widerspruch zu dem, was du gerade gesagt hast und mir eigentlich weh tun müsste, wünsche ich mir noch einen Popel von dir, bevor du mich für immer verlässt. Und das wirst du, nicht wahr?“
„So leid es mir tut, ja. Und das musst du mir wirklich glauben. Es tut mir wirklich Leid. Ganz aufrichtig.“
„Siehst du, dann ist nicht alles bedeutungslos. Wir Menschen haben echte Empfindungen, und die haben Bedeutung. Du hast eine Bedeutung für mich. Basta.“
Der Lord lächelte, gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging ins Badezimmer. Ohne dass Chariklia es merkte, nahm er sein Handy mit.
„Benson, wenn Du mich noch einmal direkt anrufst, töte ich dich. Hast du verstanden?“
Das war alles, was er auf die Mailbox sprach.
„Gehst du jetzt weg?“ fragte Chariklia mit schwacher Stimme. Sie wusste, dass sie ihn nicht wiedersehen würde, zumindest nicht so schnell. Der Lord machte sich an seinen Sachen zu schaffen, während sich Chariklia eine Zigarette ansteckte.
„Ich finde ja immer“, sagte der Lord, „man soll den Leuten ihren Glauben lassen.“
„Ach ja?“
Der Lord checkte seine Pistole mit Schalldämpfer, drehte sich zu Chariklia um und schoss ihr ins Gesicht.
Tot lag sie flach und nackt im Bett, und das Kopfkissen wurde schwarz vom Blut, das aus ihrem Hinterkopf trat, eingefärbt.
„So, hast mich belogen, hast du also doch deine Tage … Du blöde Sau.“
Dann zog er sich an und verließ das Hotel über die Feuerleiter. Er hatte zuvor sorgsam die Stellen, die seine Fingerabdrücke am besten abbilden konnten, gereinigt und die fünf benutzten Kondome mitgenommen.

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