LORD DELUXE –
Aus der Nase eines Killers
TEIL X – letzter Teil
Als seine Frau mit
den Gästen erschien, man sich begrüßte und das Esszimmer betrat,
war es nur Bensons Frau, der das Bild auffiel, denn die Anderen
konnten nicht wissen, dass es erst gerade aufgehängt worden war. Da
sie nichts vom Thema des Buchprojekts ihres Mannes wusste,
assoziierte sie bei diesem Bild keinen Nasendreck, sondern zunächst
ein modernes Kunstwerk. Verblüfft stellte sie ihrem Mann diverse
Fragen, wollte wissen, wieso er ausgerechnet jetzt dieses Bild
aufgehängt hatte, doch Benson speiste sie mit fadenscheinigen
Erklärungen ab. Die Schwester von Bensons Frau und ihr Mann wollten
sich um ein Urteil drücken, da sie nichts von Kunst verstanden, aber
der kleine Christopher, ein eher schüchterner Junge, der die meiste
Zeit am Computer saß, kannte das Bild aus dem Internet. Als er sich
unbeobachtet fühlte, raunte er seinem Vater zu, das Objekt auf dem
Bild sei ein Popel, was den Vater zunächst zum Lachen brachte.
Er betrachtete das
Bild eingehender, wurde von seiner Frau danach gefragt, und als er
daraufhin sagte, Christopher hätte auf dem Bild einen Popel erkannt,
sackte die Stimmung mit der Geschwindigkeit einer langsamen Flatulenz
herab, weil plötzlich allen klar wurde, dass es stimmte.
Der Braten stand
dampfend auf dem Tisch, der Wein war dekantiert, und inmitten dieser
sozialen, familiären Atmosphäre schlich sich das entsetzliche
Gefühl ein, dass etwas Wahnwitziges geschehen war. Bensons Frau sah
ihren Mann an, als sei er ein vollkommen Fremder. Die Stimmung war in
ihrer Erkaltung gewürzt mit dem Schrecken darüber, dass Benson
allem Anschein nach den Verstand verloren hatte.
Niemand wusste, wie
man die Situation retten konnte, und Benson saß einfach da und aß
ein Stück vom Braten. Christopher, mit gesundem kindlichen Instinkt
gesegnet, sprang auf und lief aus dem Esszimmer. Er hatte in
Gegenwart dieser konsternierten Erwachsenen einfach keine Luft mehr
bekommen. Und die brauchte er nun dringend. Er lief hinaus in den
Garten, öffnete das Tor und stand auf der einsamen Straße dieser
ruhigen Vorort-Gegend. Natürlich verstand er das alles nicht,
genauso wie die anderen, die sich noch im Haus befanden, und seine
bisherigen Erfahrungen mit Erwachsenen hatten ihn auf so eine
seltsame Sache nicht vorbereitet.
Niemand hing ein
übergroßes Poster von einem Popel auf. Das war kein jugendlicher
Scherz, kein Bonmot, schon gar nicht sachlich zu hinterfragen. Es
fiel in eine Kategorie, die jede Frage ob ihres Irrsinns erstickte.
Doch wie der Popel
aussah, in seiner Monstrosität und grausamen Schönheit, machte die
Sache noch unheimlicher.
Ein Auto hielt etwa
zwanzig Meter vom Haus entfernt. Christopher beobachtete, wie ein
kurzhaariger Mann in einem dunklen Anzug ausstieg und auf ihn zu kam.
Christopher hatte urplötzlich ein verzweifeltes Vertrauen zu diesem
Mann und bekam das Bedürfnis, ihn anzusprechen. Vielleicht hatte
dieser Mann, der von irgendwo her kam und derart seriös aussah, eine
Erklärung, oder noch besser eine Lösung:
„Mister, bitte
...“
Der Lord sah ihn an
und sagte:
„Was liegt an,
Kleiner?“
„Dort in dem Haus
sind meine Eltern und meine Tante. Mein Onkel, er ist verrückt
geworden.“
Der Mann lächelte
dünn und sagte:
„Mach dir keine
Sorgen, mein Junge. Ich erledige das.“
Der Mann tätschelte
Christophers Kopf und ging zum Haus. Christopher wartete. Was konnte
dieser Mann schon tun?
Der Junge wartete
und wartete. Es vergingen nur knapp zehn Minuten, doch ihm kam es wie
eine sehr große Ewigkeit vor.
Plötzlich kam der
Mann aus dem Haus. Mit dem Bild des Popels in den Händen.
Er hatte es mit
einem Tuch abgedeckt. Ohne Christopher noch einmal anzusprechen, ging
er zurück zu seinem Wagen.
Sehr zögerlich, und
oft wieder anhaltend, bewegte sich Christopher auf das Haus zu …
„Sir, Benson liegt
dort drüben, sein Gehirn hinter ihm. Die Alte hat ein Loch im Auge,
und mehrere in ihrer Vagina. Die Schwester und ihr Mann wurden vom
Täter in eine verfängliche Position post mortem gebracht, direkt
auf dem Esstisch. Wie sie sehen, haben sie Teile eines Bratens in
ihren Mündern, die vorsätzlich dort platziert wurden.“
Kostic fragte:
„Wo ist der Junge
jetzt?
„Bei Doctor
Rosenthal.“
„Okay, ich will
später eine Abschrift seiner Aussage sehen.“
„Klar Sir, Sie
sind ja jetzt der Skipper, nachdem Linklater aus dem Rennen ist. Und
Benson auch.“
„Bilden Sie sich
nur nicht ein, das würde irgendwas ändern. Das ist die Handschrift
vom Mullinger-Massaker.“
„Und von dem in
Denver. Sir, Peebles hat dort hinten im Schrank eine gehörige Menge
Geld gefunden. Das sieht nicht gut aus. Allem Anschein nach steckte
unser stellvertretender Direktor mit drin.“
„Die
Schlussfolgerungen überlassen sie mir, Gunnerson.“
Kostic legte den
Kopf quer, so wie er es immer tat, wenn er Angst bekam. Falls
Linklater und Benson mit der Mafia zusammen arbeiteten, wie viele
unentdeckte Maulwürfe gab es noch? War er, Kostic, nur von Verrätern
umgeben? War alles nur Schein, die ganze verdammte Behörde und das
ganze verfluchte Land? Kostic, der schon immer ein wenig dazu neigte,
unmittelbare Probleme in ein globales Maß zu übertreiben, ließ
sich im Büro die Aussage des Jungen geben und fuhr anschließend
nach hause. Dort saß seine Freundin Alice Huberman und las ein Buch
über das Matriarchat.
„Sag mal, hat das
ein Mann oder eine Frau geschrieben?“ fragte Linklater lächelnd.
Alice schaute ihn
hinter dem Buch scharf an und fragte:
„Tut das etwas zur
Sache?“
„Entschuldige, ich
wollte nur Interesse zeigen.“
„Das bezweifle
ich. Los, ich habe Hunger. Mach mir was zu essen!“
„Jawohl, mein
Schatz. Tagliatelle, wie besprochen?“
„Ja. Musst du
jedes Mal nachfragen, du Vollidiot?“
„Ich frage gerne
nach, Liebling. Ich rede gerne mit dir, weil ich dich liebe.“
„Ich liebe dich
auch. Und jetzt ab in die Küche!“
Linklater lächelte
und gehorchte. Auf dem Weg zur Küche klingelte sein Handy. Die
Nummer war nicht gespeichert.
„Wer ist da?“
„Agent Kostic,
mein Name tut nichts zur Sache. Genauso wenig wie das Geschlecht des
Autors von dem Buch, dass ihre Freundin liest.“
„Woher wissen
sie-“
„Seien sie still
und hören sie zu. Ist ihnen schon einmal aufgefallen, dass die
Pension für ehemalige FBI-Beamte ziemlich lächerlich ist?“
„Was soll diese
Frage?“
„Es gibt
Möglichkeiten, das zu ändern. Mit einem kleinen Zubrot.“
Linklater wollte dem
Anrufer sofort seine Meinung sagen und versprechen, dass man ihn und
seine Hintermänner schnappen würde, aber er wurde davon abgelenkt,
dass sein rechtes Nasenloch völlig verstopft war. Das konnte er
nicht ignorieren.
„Bleiben sie bitte
für eine Sekunde dran!“ sagte er in sein Handy, steckte sich den
Zeigefinger in die Nase und begann, darin herum zu wühlen. Nach
anfänglichen Ausrutschern konnte er das Objekt mit dem Fingernagel
einhaken und herausziehen. Es war ein typischer Globetrotter.
Kostic schnalzte ihn
so schwungvoll von sich, dass der Popel durch die Flexibilität
seines glibbrigen Anteils weit weg flog, geradewegs auf Alice zu.
„Mr Kostic, sind
sie noch dran?“
Kostic sah, wie das
Objekt im Haar von Alice landete, ohne dass sie es merkte.
„Agent Kostic,
schon mal über 20.000 im Monat nachgedacht? Treffen sie sich doch
mal mit unserem Kontaktmann.“
Kostic erinnerte
sich, was er in der Aussage des Jungen gelesen hatte. Etwas über ein
Bild mit einem großen Popel. Und dann erinnerte er sich auch an das
Ding in Misses Paradopoulos' Gefrierschrank. Er konnte sich auf das
alles keinen Reim machen. Doch mit irdendeiner Art von seltsamer
Phantasie kam ihm die Idee, dass Bedeutung immer wieder ihre
Perspektive wechselte. Dass sie geradezu kapriziös war. Linklater
hörte sich an, was der Mann am anderen Ende vorzutragen hatte.
©
Guido Ahner 2013