Nach einer Idee von Daniela Noitz und Guido Ahner
Diese Geschichte war eigentlich ohne beabsichtigte Botschaft verfasst worden, doch im Nachhinein könnte es eine Ode an die Einsamkeit sein, die einem hilft, wenn man einer Bedrohung entkommen ist und froh sein kann, sich in sein eigenes Sein zu kuscheln. Oder die einen im Schmerz der Trennung als einziger aufrichtiger Lebensraum bleibt. Manchmal verschwinden Bedrohungen einfach, und manchmal geht die Zweisamkeit einfach fort, ohne schlüssigen Grund und ohne darauf Rücksicht zu nehmen, wie sehr sie einen ausgefüllt hat.
TEIL I
Sie saß am Ende des
Stegs, der in den weiten See hinein ragte.
Der Nachmittag
kippte langsam über in den Abend, und je länger sie saß, desto
enger schienen der See und der Himmel sich um ihr Bewusstsein zu
schließen, fast wie eine Umarmung, doch ihre Ratio wirkte dem
entgegen, rieb sich an der Intensität, ohne sie ganz zu
assimilieren. So funktionierte es, so war es gut.
Bevor die Dunkelheit
gänzlich die Macht übernahm, erkannte sie auf dem See, zwischen
Nebel, Wald, Wasserkräuseln und Dunkelheit, ein kleines Boot, das
schnurstracks auf ihren Steg zuhielt.
Tavie beobachtete es
verwundert.
Ein Mann saß darin.
Sie konnte zunächst nicht erkennen, ob er sie schon bemerkt hatte,
hörte jedoch seinen schweren Atem, der in Erschöpfung vom
anstrengenden Rudern durch die Luft stieß wie ein träger Hammer.
Tavie erhob sich. Es
machte den Anschein, als wollte der Mann am Steg anlegen.
Sie hatte schon sehr
lange keinen anderen Menschen mehr gesehen.
Tavie machte sich
bereit ihm zu helfen, das Boot zu verlassen, und als er nah genug
war, schaute sie in seine Augen. Angst las sie darin, aber auch
Erleichterung.
„Gib mir Deine
Hand“ sagte sie und wollte vertraut klingen.
Das Boot wackelte
bedenklich, als der Mann aufstand und nach Tavies ausgestrecktem Arm
tastete.
„Komm, einmal mit
Schwung!“ rief sie, und der Mann kam dem nach. Er wuchtete sich mit
Tavies Hilfe auf den Steg. Natürlich stolperte er und fiel auf die
Knie.
„Jetzt hast Du es
geschafft.“ sagte Tavie. Der Mann sah ihr in die Augen und wunderte
sich über ihren kameradschaftlichen Tonfall, viel zu vertraulich
klingend für eine fremde Person. Er fand, dass sie gut aussah, zwar
nicht mehr 20 und etwas blässlich, aber durchaus ansehnlich. Lennox
mochte eigentlich Blondinen lieber, doch das lange schwarze Haar
besaß durchaus seinen Reiz.
Es erinnerte ihn
sofort an das Unerschlossene, vielleicht sogar an das Diabolische.
Er warf einen Blick
den See hinunter. Er versuchte zu schätzen, wie lange er auf dem
verdammten Wasser unterwegs gewesen war, doch es schien in diesem
Moment an Bedeutung zu verlieren.
„Bitte nehmen Sie
meine Kapitulation entgegen.“ sagte er. Seine Hand tauchte in die
Innentasche seiner dunklen Jacke und brachte eine Pistole zutage.
Tavie erschrak. Doch
der Mann hielt ihr die Pistole mit dem Griff voraus entgegen.
„Ich ergebe mich.“
sagte er.
Tavie tat einen
Schritt zurück, weil sie die Pistole nicht mochte.
„Vor mir ergibst
Du Dich?“ fragte sie.
„Vor allem und
jedem. Ich bin müde. Ich möchte nicht mehr fliehen.“
„Du warst auf der
Flucht?“
Lennox nickte und
hielt ihr noch nachdrücklicher die Pistole entgegen. Tavie fasste
das Ding mit zwei Fingern, holte aus und warf es in den See. Lennox
schien verblüfft.
„Wenn Du sowieso
aufgegeben hast, dann brauche ich Deine Waffe nicht.“ sagte sie.
„Sind Sie sicher,
dass das klug war? Ich gelte als gefährlich und unberechenbar ...“
„Es scheint
vielleicht nicht danach auszusehen, weil ich hier ganz allein am See
lebe, aber ich mag Überraschungen, und Unberechenbarkeit ist mir
nicht fremd. Ist Dir kalt?“
„Ja, sehr. Der
Wind, das kalte Wasser … Und ich habe nichts gegessen.“
„Dann komm mit in
mein Haus, ich mache uns eine Suppe.“
Lennox zögerte,
weil er auf eine solche Einladung nicht vorbereitet war. Er dachte,
man würde ihn gleich hier verhaften, fesseln und mit viel Getöse
wegfahren.
„Nun komm schon,
ich beiße nicht.“ sagte Tavie und ging voran.
Lennox erhob sich
und sah, wie die Frau entspannten Schrittes den Steg hinab zum Ufer
wanderte. Ein letztes Mal sah er sich nach allen Seiten um. Das
kleine einstöckige Holzhäuschen lag fast direkt am Ufer, daneben
ein kleiner Gemüsegarten. Eine kleine Wiese erstreckte sich bis zu
einem Hügel, der die Sicht auf das Dahinterliegende versperrte. Drum
herum war überall Wald.
Lennox folgte Tavie
den Steg hinunter.
Tavie öffnete die
klobige Tür zu ihrem Haus und trat ein. Lennox hatte mit vielem
gerechnet, mit sehr viel Aufsehen um seine Person, mit Zorn und
Feindseligkeit, aber nicht damit.
Schüchtern betrat
er das kleine Häuschen.
Im Innern brannte
ein Feuer im Kamin. Tavie war bereits dabei, die bereits angerichtete
Suppe auf den Herd zu stellen und ein Brot aufzuwärmen. Sie besaß
eine niedliche Küchenecke mit allerlei Kräutern in Wandregalen.
Lennox fiel ein großer Schreibtisch auf, eine gemütliche Sitzecke
mit Sofa und Sessel, und weiter hinten, in einem niedrigen,
höhlenartigen Bereich, das Bett.
In der Küchenecke
stand ein kleiner Tisch und zwei Stühle. In dem Raum lag ein dicker
Teppich, der dringend gereinigt werden musste, und die Wände waren
voller Bilder, Fotos aus allen Ländern.
Und es gab diesen
Kamin. Lennox mochte Kamine.
„Du kannst ruhig
den Sessel zum Feuer schieben und Dich dort aufwärmen. Wenn Du
frische Sachen brauchst, ich hätte noch einen schönen dicken
Schafswollpullover.“
„Das wird nicht
nötig sein, danke ...“
Er schob den alten
Sessel, der viel schwerer war als er gedacht hatte, herüber zum
Kamin und setzte sich hinein. Er seufzte vor Wohlbefinden. Das Feuer
war sehr warm, und seine Haut begann zu kribbeln.
„Geduldige Dich
noch ein paar Minuten. Möchtest Du vielleicht einen Whisky?“
„Das ist sehr
aufmerksam. Einen kleinen Schluck könnte ich vertragen.“
Tavie öffnete einen
der Schränke und holte eine Flasche Scotch heraus.
„Sag, wie heißt
Du? Und wieso bist Du auf der Flucht?“
„Mein Name ist
Lennox. Ich werde gesucht. Die Polizei ist hinter mir her.“
„Ach wirklich?
Hast Du etwas ausgefressen?“
„Das kann ich
nicht verneinen.“
„Das kannst Du
nicht verneinen?“ fragte Tavie, weil sie den Ton dieser Aussage
putzig fand. Sie ging zu Lennox und gab ihm ein kleines Glas mit
Scotch.
„Danke schön ...“
„Also verneinen
kannst Du es nicht, hm? Magst Du mir erzählen, weswegen Du gesucht
wirst?“
„Es ist mir etwas
peinlich.“
Nächster Teil Freitag, 09.05.2014
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