Beim ersten Lennox
und seiner Hilflosigkeit dachte sie für fünf Sekunden, dass er ihr
gefallen könnte, und selbst bei dem zweiten hatte sie es gedacht,
aber nur für eine halbe Sekunde. Bei diesem, welcher genauso viel
oder so wenig echt war wie die anderen, hatte sie das Gefühl die
ganze Zeit über. Er hatte sie sofort auf die Bilder an den Wänden
angesprochen und sich Anteil nehmend gezeigt, ohne aufdringlich zu
sein. Er hatte an sie gedacht. Der Erste hatte zwar auch nach ihrem
Leben gefragt, aber nur um es abzuhaken, nur aus kurioser Neugier
heraus.
Tavie stellte fest,
dass Menschen, die einem anderen Menschen begegneten, der ihnen
sympathisch war, immer an der Echtheit zweifelten. Zu oft waren sie
enttäuscht oder hinters Licht geführt worden, zu oft war der schöne
erste Schein nach kurzer Zeit abgeblättert.
Gefragt zu werden,
ob man real war, konnte ein schönes Kompliment sein.
Tavie betrachtete
den neuen Lennox, der nun friedlich schlief. Es war verblüffend,
dass er, obwohl er genauso aussah wie die vorigen beiden, eine ganz
andere Ausstrahlung besaß. Etwas an ihm bewies die Existenz einer
Persönlichkeit, und man fühlte sich wohl in seiner Gegenwart.
Nun fragte sich
Tavie, ob er auch solche törichten Überfälle verübt hatte wie der
erste Lennox, vom zweiten ganz zu schweigen, von dessen Taten sie
nichts erfahren hatte, die sie sich jedoch ausmalen konnte.
Es fiel ihr sehr
schwer, sich vorzustellen, dass dieser neue Lennox etwas Böses getan
hatte. Und nun ging ihr auf, dass ihr das auf einmal wichtig geworden
war.
Sie ging noch nicht
zu Bett, lag auf dem Sofa und las. Irgendwann, als die Nacht schon
alt und das Feuer im Kamin nur noch Glut war, wachte Lennox auf.
„Es war also kein
Traum. Ich bin tatsächlich hier.“
„Ja, das bist Du.“
„Entschuldige,
aber hast Du vielleicht etwas zu trinken, mein Kehle ist wie
ausgetrocknet.“
„Oh entschuldige,
natürlich.“
Tavie holte den
Scotch. Und nachdem Lennox seine Füße wieder auf den Boden gestellt
hatte, setzte sich Tavie auf den Sessel ihm gegenüber. Sie warf noch
einen Scheit Holz in den Kamin und goss zwei Gläser ein.
„Ich denke ich
sollte Dir jetzt mal erzählen, was es mit meiner Flucht auf sich
hat. Das bin ich Dir schuldig.“
„Nein, nicht
schuldig, aber ich muss zugeben, neugierig geworden zu sein.“
„Also gut, dann
werde ich mal beichten. Du musst wissen, dass ich niemanden bedroht
habe. Und ich habe genaugenommen auch kein Verbrechen begangen.
Drüben auf der anderen Seite, Millionen gefühlter Meilen von hier
entfernt, wohnte ich in einem kleinen Dorf am Ufer des Sees, und in
den letzten zwei Jahren hat sich dieser Ort zu einem
Tourismusmagneten gemausert, weil eine Sängerin, die über Nacht ein
großer Star geworden ist, dort geboren wurde. Sie hat dort nicht mal
ihre Kindheit verbracht, nur geboren wurde sie dort. Du musst wissen,
dass ich ein Einzelkind bin, und früher, als ich noch ein Junge war,
nur sehr wenige Freunde gehabt habe, weil ich keine anderen Kinder
mochte. Und ich mochte auch keine Erwachsenen. Leider hat sich das
nicht gebessert, als ich selbst erwachsen wurde. Ich habe nie viele
Menschen um mich herum ertragen. Ich empfand es als äußerst
beklemmend, mich in Restaurants oder auf Veranstaltungen aufzuhalten.
Jedenfalls wurde die
Tatsache, dass unser Ort plötzlich so überlaufen war, für mich zu
einem reinen Horrorszenario. Vorher war es immer ruhig gewesen, und
ich habe jeden im Dorf gekannt. Ich habe keine wirkliche Angst vor
Menschen, aber sie sind mir einfach unangenehm. Ich hasse sie nicht,
aber es geht mir besser, wenn keine in der Nähe sind.
Es hört sich sehr
schlimm und bösartig an, wenn ich das so sage, aber viele Menschen
sind für mich schlimmer als eine Badewanne voller Kakerlaken.
Schlimmer als ein Schiffsdeck voller Ratten, schlimmer als in einem
Terrarium voller Giftschlangen zu stehen. Ich musste zu einem Arzt,
einem Seelenklempner, aber der gab mir nur solche blödsinnigen
Konfrontationsaufgaben auf. Ich sollte mich dem Problem stellen und
nicht davor weglaufen. Nun, ich wollte nicht, dass meine Abneigung
verschwindet, sondern dass die Menschen verschwinden. Ich wollte mich
nicht verändern, verstehst Du? Diese Eigenart ist genau das, was sie
ist. Sie ist mir eigen. Ich bin weder stolz darauf, noch halte ich
sie für eine Tugend, sie ist einfach ein maßgeblicher Teil meiner
Persönlichkeit. Aber ein Arzt, oder auch die Gesellschaft, will,
dass man sich ändert, dass man sich angleicht, und das wollte ich
nicht. Jeden Tag Hunderte, Tausende von Menschen in unserem Kaff. Man
konnte nirgends mehr hingehen, ohne sich durch einen Schlamm aus Homo
Sapiens drängen zu müssen. Und es ist nur logisch, dass man sich
inmitten dieses Chaos einsamer fühlt, als wäre man der einzige
Mensch auf der Welt. Ich war wirklich am Durchdrehen, Tavie ...“
Indem er ihren Namen
sagte, so mitten in seiner Erzählung, erzeugte bei ihr eine
ungeheuer starke Rührung. Ergriffen fragte sie:
„Und was hast Du
dann getan?“
„Eine sehr kurze
Zeit habe ich tatsächlich versucht, damit klar zu kommen. Doch je
länger dieser Andrang dauerte, desto schlimmer wurde es mit mir. Und
ja, ich hatte die Idee, mir das Leben zu nehmen.“
„Konntest Du nicht
einfach fortgehen?“
„Ich hätte meine
Heimat aufgeben müssen. Und woanders wäre ich auf dasselbe Problem
gestoßen. Ich hätte mir einen einsamen Ort suchen sollen, aber dazu
fehlte mir die Kraft.“
„Was hast Du denn
gearbeitet?“
„Ich habe Bücher
übersetzt. Ein Job, den man ganz alleine tut. Na jedenfalls habe ich
mir diese Pistole besorgt, von einem Bekannten. Und eines Abends habe
ich sie mit mir herumgetragen, bin dann mit einer Flasche Scotch am
Ufer gelandet und habe mich betrunken. Ich wollte mir den Mut
antrinken, mir das Leben zu nehmen.
Frag mich jetzt
nicht, wie es genau passiert ist, denn ich war stockbesoffen. Aber
ich denke ich habe mir selbst ins Bein geschossen und bin in dieses
Boot gefallen.
Stunden später bin
ich aufgewacht und befand mich schon mitten auf dem See. Ich sah
überhaupt kein Land mehr … Und deshalb dachte ich auch, dass ich
träume, als ich dieses einsame Haus sah. Und Dich. Ich dachte, es
kann nicht wahr sein, dass mir etwas begegnet, was ich mir tief im
Innern ersehnt hatte. Nur einen Menschen, und die Einsamkeit, die
Stille ...“
Tavie sagte nichts,
sondern sah ihn nur an. Er wirkte leicht euphorisch und fragte:
„Ist es bei Dir
auch so? Dass Du hierher gezogen bist, weil Du keine Menschen
erträgst?“
„Wir haben sehr
viel gemeinsam, Lennox. Aber aus diesem Grund bin ich nicht hier.
Sag, möchtest Du Dich hinlegen? Mein Bett steht dort hinten.“
„Dein Bett? Und wo
schläfst Du?“
„Vielleicht
schlafe ich überhaupt nicht.“
„Hältst Du mich
jetzt für bescheuert, weil ich so eine Macke habe?“
„Nein. Ganz und
gar nicht. Hast Du Hunger?“
„Um ehrlich zu
sein, ja.“
„Ich auch. Ich
mache uns ein wenig Brot und Käse warm.“
Lennox spürte, das
Tavie ein wenig aufgewühlt war von seiner Erzählung. Sie kämpfte
mit etwas, aber vielleicht wusste sie selbst nicht, mit was.
Lennox machte sich
nützlich und bearbeitete das Kaminfeuer.
„Ich hatte bei mir
zu Hause auch einen Kamin. Und ich hatte auch viele Bilder an den
Wänden, aber von Orten, an denen ich noch nie war. Ich bin nicht so
viel herumgekommen.“
„Was für Bücher
hast Du denn übersetzt?“ fragte Tavie, während sie den Ofen
wärmte und den Käse schnitt.
„Alle möglichen.
Romane, Reiseberichte, Geschichtsbücher.“
„Hast Du nie
darüber nachgedacht, selbst etwas zu schreiben?“
„Ich schreibe ja
selbst. Aber ich habe es nie jemandem gezeigt.“
„Das ist schade.“
„Und Du, was hast
oder hattest Du für einen Beruf?“
Tavie antwortete
kühl:
„Journalistin.“
Lennox war
verblüfft. Das hatte er nicht erwartet. Er spürte jedoch, dass ihr
das Thema unangenehm war,
„Nun, dann haben
wir etwas gemeinsam. Wir beide schreiben, auf die eine oder andere
Art.“
„Oh, hier sind ja
noch Kartoffeln, die mache ich auch warm. Das ist gut, Käse und
Kartoffeln.“
Lennox sah auf
Tavies Schreibtisch jede Menge Papier und Bücher. Sie hatte ihn nach
dem Schreiben gefragt, aber wenn es um sie ging, wollte sich nicht
darüber sprechen. Er war nicht der Typ, der unangenehm insistierte,
also verlegte er sich darauf, auf sie einzugehen:
„Eine Freundin,
ein Freund und ich haben immer zu gewissen Anlässen Raclette
gemacht.“
„Aha, also hattest
Du Freunde ...“
„Ja, wenige. Eine
Frau und zwei Männer. Die haben mich akzeptiert, und immer wenn
irgendwelche größeren Feste anstanden, vermieden sie es, mich
einzuladen. Das war sehr rücksichtsvoll.“
„Und die Frau war
auch Deine Freundin?“
„Ja, das war sie,
aber nicht sehr lange. Sie hat es nicht ausgehalten mit einem Mann,
der nie unter Leute geht. Es gab ein Lokal, das ich gerne besucht
habe, aber mehr auch nicht. Und manchmal konnte ich auch ins Kino
gehen. Und das wurde ihr mit der Zeit zu eintönig. Doch wir blieben
Freunde. Sie ist jetzt verheiratet und hat eine Tochter. Der Mann ist
Polizist.“
Lennox musste
darüber lachen. Tavie fragte:
„Ist das so
komisch?“
„Ja, das ist es.
Polizisten haben ja viel mit Menschen zu tun ...“
Tavie lachte mit.
Dann fragte Lennox:
„Aber ich vermute,
Dir ist es unangenehm, über Deine Vergangenheit zu sprechen, oder?
Du wolltest sie endgültig hinter Dir lassen.“
„Die Vergangenheit
ist sowieso hinter mir, ganz automatisch.“
„Wenn Du Dir
dieser Sache tatsächlich so sicher bist, wärst Du kaum hierher
gezogen. Du wolltest nichts mehr mit all den Dingen zu tun haben, die
in Dir Erinnerungen wach rufen.“
„Die Erinnerung
ist in mir drin. Und ich bin vor nichts davon gelaufen. Ich habe nur
etwas verändert.“
„Aber dafür gab
es einen ganz bestimmten Grund.“
„Das kann ich
nicht leugnen.“
Lennox sah, dass
Tavie bei dem Thema ein wenig ungehaltener wurde. Er wollte nicht
aufdringlich sein und stellte keine weitere Frage. Tavie hingegen
sagte:
„Für jemanden,
der so wenig mit Menschen zu tun hat, besitzt Du ganz schön viel
Empathie und Neugierde.“
„Schließt das
eine das andere aus? Ich interessiere mich für bestimmte Menschen,
aber ich muss nicht zwingend in ihrer Nähe sein.“
„Tja, nun bist Du
in der unglücklichen Lage, Dich in der Nähe eines anderen Menschen
zu befinden. Sei vorsichtig, so etwas kann Folgen haben ...“
„Du weißt, dass
ich jetzt sagen muss, dass es für mich ganz und gar kein Unglück
ist, hier zu sein. Ich habe das Gefühl, dass wir beide einander
verstehen, und das erlebe ich sehr selten. Es ist sehr schön.“
Nächster Teil Freitag, 13.06.2014