Mittwoch, 5. November 2014

WICHTIG ...



WICHTIG

Manchmal, wenn du in deiner Bude hockst und kaum ein Geräusch hörst, vielleicht mal ein Husten von nebenan oder ein vorbeifahrendes Auto, kannst du dir überhaupt nicht vorstellen, dass dort draußen noch sieben Milliarden andere Menschen umherwuseln. Es erscheint dir vollkommen unglaubwürdig, wie solch eine gigantische Menge von Individuen überhaupt Platz finden kann auf so einem kleinen Planeten, und dabei noch Raum für Stille erhalten bleibt.
Und noch viel verwirrender ist für dich die Tatsache, dass du überhaupt existierst und hier sitzt, und du fragst dich, warum du dir solche Gedanken machst, denn sicher bist du damit nicht allein und folgerst, dass eigentlich niemand weiß, was er hier eigentlich soll und dass alles Wirken und Leben vielleicht vollkommen unmotiviert ist und zu nichts führt.




Stell dir mal vor, wie viele Menschen im Verlauf der Geschichte schon gestorben, wie viele Schicksale über die Erde geweht sind und was all dies letztlich ausgemacht hat. Natürlich erinnert man sich an gewisse Leute wie William Shakespeare oder Julius Caesar, aber nimm mal an, sie wären einfach vergessen worden. Hätte doch überhaupt nichts ausgemacht, und alles wäre wie immer, oder falls anders, würde es niemand merken. Und wenn es keine Autos gäbe, säßen wir halt immer noch auf Pferden, und ohne Einstein hätten wir anstatt E-Mails unser altes Briefpapier. Ist doch einerlei.




Plötzlich bekommst du eine Krankheit, und der Arzt sagt dir, dass es verdammt ernst ist und nun die medizinische Maschinerie in Gang gesetzt wird, um dich kleines Wesen zu retten. Oder du hast Pech und wirst mit deinen Problemen ignoriert. Oder du ignorierst die bipolare Störung deines Nachbarn und hilfst nur noch jeder dritten alten Dame über die Straße. Du spendest nichts für hungernde Kinder, sondern lieber für Robbenbabys, und meldest dich eines Tages sogar bei deinem besten Freund nicht mehr, schreibst stattdessen auf Facebook mit einem Japaner, den du nie treffen wirst.
Macht das alles wirklich etwas aus, oder macht es wirklich gar nichts aus, oder nur in einem mikroskopisch kleinen Rahmen, den du irgendwie aufwerten musst, um nicht verrückt zu werden?




Wer erdreistet sich eigentlich zu entscheiden, was wichtig ist, und was nicht? Müssen wir ständig und immer wieder neu in einem völlig unmotivierten Universum einen Pfahl in den Boden schlagen? Ist das nicht das gleiche, als wenn man in einen Ozean spuckt? Nun, vielleicht bringt es was, wenn sieben Milliarden ihre Pfähle schlagen oder spucken.
Aber dann haben wir einen Boden aus sieben Milliarden Pfählen oder einen Ozean aus Spucke, und mit welchem Recht behaupten wir, dies sei ein entscheidender Unterschied?




Du beschließt nun, ein neues Handy zu kaufen und dir die Haare zu färben. Irgendwas muss ja. Leben ist Veränderung.
Schließlich wird im Fernsehen deine Lieblingsserie wiederholt, und du freust dich. Diese kleine Freude erscheint dir realer als alle Fakten, mit denen du täglich torpediert wirst und die dir als bedeutend verkauft werden.
Deine Freude schwillt so sehr an, dass du sie mit irgendwem teilen musst, also postest du etwas dazu. Und als du feststellt, dass es keinen interessiert, erkennst du, dass dies in die gleiche Kategorie fällt wie diese Angewohnheit von Leuten, ihr Mittagessen zu fotografieren und ihren Hund als einzig wahren Freund lobpreisen.
Und hätten wir Einstein nicht vergessen, könnten wir sagen, dass immer und überall alles relativ sein wird. Also mach dir mal keine Gedanken über die Dinge, die andere Menschen wichtig finden.
Deine Serie fängt gleich an.




Wöchentliches Film-Experiment: Der Vlog auf YouTube. Klick auf das Bild zur Playlist.






Freitag, 17. Oktober 2014

Funke ...



FUNKE


Das Attentat auf einen Monarchen wurde zum letzten Tropfen eines Fasses, das den ersten Weltkrieg auskippte.
Zwei Jahrhunderte zuvor ließ der Schlag mit einem Tomahawk Franzosen und Engländer aufeinander losgehen, trotz der gewaltigen Größe des neuen Landes.




Ein Funke bringt Gas zur Explosion. Die Spaltung eines Atoms kann Hunderttausende töten und jahrzehntelanges Leid an Mensch und Natur verursachen.
Doch ebenso kann es ein Wort sein, ein Blick, und es gibt Krieg. Manchmal auch etwas Gutes, wie Liebe oder Einigung, vielleicht auch nur Konsens.




Der Funke löst nur etwas aus, mit dem man schon längst schwanger geht, aber dieses eine Quantum an Energie, wie das der Materie beim Urknall, macht die Sensation unausweichlich.




Stell Dir vor, Du könntest all diese Funken einfangen, in Deinen hohlen Händen bewahren und alles verhindern. Keine Kriege, keine Explosionen, keine Liebe.
Ohne Funken keine Welt, nur ein dickes Monstrum in Starre.




Mittwoch, 8. Oktober 2014

Geister ...



GEISTER

Menschen, die zu Geistern werden ...

Sie wandern vorbei an meinen Augen, werden von ihrer Zukunft fortgezogen und hinterlassen ein unscharfes Echo, oder eine rätselhafte Momentaufnahme voller Fragen.

Mein eigenes Bild wabert in ihren Erinnerungen wie ein kleiner Nebel zwischen zwei Türen, wie ein alter Stuhl oder eine Lichtspiegelung. Ich bin ebenso Geist wie sie.




Geister sind wir, außerhalb unserer Blutbahnen, außerhalb unseres Gehirns, unseres Sauerstoffs. Überallhin verstreuen wir unseren Spuk und unsere gutgemeinten Lügen, und auch die Maske unserer Schönheit geht mit ihnen auf Tournee.

In meinem Kopf wohnen tausend Geister. Und immerfort werden neue erschaffen, und ich weiß nicht, ob es eine Herabsetzung oder Versöhnung ist, wenn ich einen von ihnen entlarve. Was ist aus Dir geworden, Freund? Wo bist Du, und was tust Du?




Deine Antwort fällt, ob von Dir selbst gegeben oder von mir phantasiert, in den schon angestaubten Trichter Deine Chimäre. Du wirst nicht mehr real. Du bist unglaublich weit weg.

Manchmal brauche ich die wirkliche Hand in meiner, die Wellen einer Stimme an meinem Ohr, um mich zu vergewissern, dass ich mir selbst noch Mensch und nicht der Versuchung erlegen bin,
meinen eigenen Geist im Spiegel zu sehen.
Halt mich fest. Lass uns die Erde bei ihrer Kreisbahn spüren. Lass uns bleiben und gemeinsam wandern, mit all den Gestern, die wir mit uns tragen ...




Freitag, 5. September 2014

DER WORTINGER - Kurze Zeilen zum Kurzfilm


DER WORTINGER

Ein Film von Guido Ahner und Daisy Nachtwey

Aus irgendeinem Same unserer sprachüberfluteten Zivilisation ist ein mysteriöses Wesen entsprungen, das aufgrund seiner Gewohnheit, neue Worte zu erfinden, "Der Wortinger" genannt wird.

Dieser Kurzfilm versucht, die Fragen zu diesem Phänomen zu bündeln und diesen Wortinger, auch mit Hilfe bislang ungezeigter Aufnahmen von Augenzeugen, greifbarer werden zu lassen. Ist er real oder ein Geist? Und steckt hinter seinen Wortschöpfungen eine Bedeutung?
Gewiss kann dieser kurze Film nur einen Anriss anbieten, nur Fragen stellen und den Diskurs fokussieren, doch er versucht ebenso, zu reflektieren und Ansätze für eine Bilanz anzubieten, die natürlich viel zu verfrüht wäre. Oder vielleicht ist es sowieso zu spät für Bilanzen, weil jeder Sinn schon an uns vorübergeflossen ist und uns nur noch die Schalen der Begriffe übriggeblieben sind.

Doch ein Rätsel bleibt er, dieser Wortinger. Ein Grusel, ein Alb, eine melodramatische Anklage. Haben wir als aufgeklärte, gut codierte Rezipienten das verdient?


Länge: 24 Min.
BRD 2014


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Donnerstag, 26. Juni 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen – Teil IX



Zusammen im Bett wurden alle Fragen verbrannt und allem getrotzt, was als Mysterien diesseits oder jenseits des Sees herumschwirrte.
Sich ganz dem Anderen und dem Wir zu widmen, wurde zu einer Rebellion, eine Beweisführung für den freien Willen.
Tavie und Lennox liebten sich hingebungsvoll und ohne Worte, sprachen nur durch Berührungen und Blicke, und durch ihre Körper.
Der Winter schickte ein wildes Schneegestöber über das Haus. Der See bibberte, die weißen Wipfel standen starr und vereist. Im Innern der Holzhauses wohnte die Wärme, so wie sie sich selbst am liebsten sah. Die Wärme zweier Leiber und Seelen, sich erhaltend und beschützend und Wonne schenkend. Das Innere des Hauses war nicht mehr und nicht weniger als ein Fleck in einer Ödnis, eine kleine Unebenheit in der Savanne und ein kleiner Stern in der Schwärze. Es war der Kontrast, der der Welt einen Ausdruck gab, der ein Gesicht zum Lächeln oder zum Weinen, der es wiedererkennbar machte.
Die Fensterläden blieben verschlossen, der Kamin glühte, und die Balken knarrten im Wind.
In den Laken blieb alles geschützt und miteinander verwoben. Ein Knäuel des Guten, wenn auch nur aus der Sicht der beiden Menschen, ohne eine Maxime zu sein.
Der Schlaf versiegelte alles. Er dauerte sehr lang und war nicht nur Schlaf, sondern auch Beharren, wie das Graben eines Loches oder die Errichtung eines Turms. Ehern und von Menschenhand gemacht. Bewusst und voll von Selbstverständnis.
Lennox wusste nicht, ob es Nacht oder Tag war, als er die Augen aufschlug.
Ihm fiel sofort auf, dass der so vertraute Herzschlag, dieser liebliche Atem dicht bei ihm, nicht mehr zu hören und zu spüren war.
Tavie lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, und sie war nicht mehr am Leben.
Er sah sie nur an. Es war nicht nötig, ihre Vitalzeichen zu überprüfen. Lennox lehnte es ab, zu verstehen, was geschehen war. Er blickte in einen grässlichen Abgrund, aus dem eine namenlose Stimme herausflüsterte und sagte, dass nichts selbstbestimmt sein konnte, dass es alles gestaltet und geplant wurde. Nah am Wahnsinn schloss er Tavies Körper in seine Arme. Blitze des Irrsinns zermürbten ihn, scharf und gleichzeitig schwer wie Felsblöcke.
Er wickelte ihren Körper vorsichtig ein, von Kopf bis Fuß. Mechanisch hob er sie auf seine Arme und trug sie hinaus auf den Steg. Das Boot war völlig verschneit, aber das spielte keine Rolle. Er legte Tavie hinein und stieß das Boot mit der Stange auf den See hinaus.
Lange saß er dort und sah zu, wie das Boot langsam aus seinem Sichtfeld verschwand, so als würde es gezogen werden. Lennox schaute gen Himmel, als könnte er dort diese Kraft finden, die alles lenkte, die ihn und Tavie zusammengeführt und getrennt hatte.
Als er fast erfroren war, schleppte er sich zum Haus zurück, das nun ihm gehörte. Ein Tausch hatte stattgefunden. Lennox konnte das alles nicht in seiner Ganzheit fassen, das Erleben und die neue Einsamkeit, die er gut genug kannte, von früher.
Innerlich vollkommen taub, setzte er sich und nahm sich ein Buch, das irgendwo herumlag. Lennox konnte nicht nachdenken, und wenn er ein Gefühl zuließ, hätte es ihn zerstören können. Er sah die Pistole neben dem Kamin liegen. Er nahm sie und legte sie vor sich auf den Tisch. Er konnte sie jederzeit benutzen. Doch zunächst las er das Buch, eine amüsante Geschichte um Eifersucht und Betrug. Er konnte Tavie überall an sich riechen, und es liefen Tränen über sein Gesicht. Er kochte sich einen Tee, zog sich einen von Tavies Pullovern an, legte Feuer nach und spielte weiter. Das Spiel des Daseins. Er spielte atmen und trinken, essen und gehen und sitzen und denken.
Es verging ein Tag, und danach noch einer. Eine Woche flog vorbei, und ein neuer Monat begann.
Es wurde irgendwann milder. Der Schnee verschwand.
Lennox kümmerte sich um den Gemüsegarten und legte neue Fallen aus. Ihm war es egal, ob er nun ersatzweise Tavies Leben lebte oder sein eigenes in einer anderen Form. Er ertappte sich dabei, wie er sich von Tavie erholte. Das hieß nicht, dass er irgendeine neue Hoffnung aufkeimen ließ, er hatte nur begonnen, eine neue Kälte in sich selbst zuzulassen. Wenn er ehrlich war, dann musste er zugeben, das Absolute erfahren zu haben, für eine sehr kurze Zeit. Doch von der Intensität konnte er lange zehren, und wenn er tatsächlich glaubte, alles sei fremdgesteuert, müsste er vielleicht jemandem danken.
Lennox hatte zu angeln begonnen und verbuchte dabei sogar einigen Erfolg.
Er konnte auch schnitzen und fertigte einige lustige Figuren an, die er um das Haus herum stellte.
Eine davon sah aus wie ein kleines Skelett, finster schauend, wie aus einem Gruselfilm.
Es stand direkt auf einem der Pflöcke des Stegs. Als Lennox gerade im Haus einen Hasen ausnahm, erblickte das hölzerne Skelett ein Boot, das aus den Weiten des Sees auf den Steg zuhielt.

ENDE


Donnerstag, 19. Juni 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen – Teil VIII



Lennox erwachte mit einer unerwarteten Frische.
Neben ihm lag Tavie, friedlich schlummernd und glücklich aussehend, als ob sie mit einem Gefühl der absoluten Geborgenheit eingeschlafen wäre.
Lennox küsste sie auf die Wange, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob sie das guthieße oder nicht. Sie schlug die Augen auf.
„Du bist noch da!“ sagte sie, so als ob sie etwas anderes erwartet hatte.
„Und Du auch.“
„Wir träumen nicht, oder?“
„Nein, aber wenn doch, ist es egal.“
Nun küssten sie sich mit beiderseitigem Einverständnis. Und nichts war schöner als dieser Kuss, dieses Beschließen.
Mit größter Behutsamkeit liebkosten sie sich, waren verwirrt, entzückt und auch überfordert wie Kinder.
„Ich muss Dir unbedingt etwas zeigen.“ sagte Tavie. „Ich muss es. Wenn ich damit warte, platze ich.“
„Was kann das sein?“
„Es wird Dich sehr verwirren. Vielleicht wirst Du darüber an der Welt, so wie Du sie kennst, zweifeln.“
„So ungeheuerlich ist es?“
„Ja, in der Tat. Ich muss das tun, bevor ich mich Dir mit Haut und Haaren hingebe.“
„Also gut. Wenn das die Bedingung ist, dann nehme ich es in Kauf.“
„Aber Du musst dafür ganz offen sein. Für alles. Für etwas, das Du für undenkbar gehalten hast.“
„Jetzt machst Du mir Angst.“
Tavie half Lennox auf die Beine, worauf er sie umarmen wollte, doch sie hielt ihn davon ab.
„Noch nicht, Liebster. Bitte folge mir. Kannst Du gehen?“
„Ja, ich denke schon.“
Tavie nahm einen Spaten mit. Lennox wunderte sich darüber, aber er sagte nichts. Zunächst durfte er ihren Gemüsegarten bewundern, bevor er ihr zum Wald folgte.
An der bewussten Stelle gebot sie ihm zu warten. Sechs Monate waren seit dem zweiten und ein ganzes Jahr nach dem ersten Lennox vergangen, doch sie wusste noch genau, wo sie vergraben waren und wie sie gelegen hatten.
Sie grub an der Stelle des Ersten.
„Du hast etwas vergraben? Einen Schatz?“
„Nicht ganz, obwohl man aus einer gewissen Sichtweise aus sagen könnte, dass es einen Wert hat, auf eine verrückte Weise.“
Lennox starrte auf einen Totenschädel.
„Großer Gott … Wer ist das?“
Tavie beugte sich herunter. Sie schaufelte die Kleidung des Toten frei.
„Der trägt ja meine Jacke!“ sagte Lennox.
„Nicht nur das. Er ist Du. Der erste Lennox, der mich mit einem Boot gefunden hat.“
„Der erste?“
Tavie machte sich daran, den Zweiten freizulegen. Ein weiterer Totenschädel schaute aus dem winterlichen Erdreich heraus. Und auch hier zeigte Tavie dem lebenden Lennox die identische Jacke.
„Zwei Männer, genau wie Du. Sie sahen genauso aus, trugen dasselbe, aber sie waren grundverschieden zueinander, und Du bist zu beiden grundverschieden.“
Er sah auf die beiden Skelette, die nebeneinander lagen. Gruselige Beweise für etwas Unerklärliches.
„Sie haben genauso ausgesehen wie ich? Unverwechselbar? Und was ist mit ihnen geschehen?“
„Einer ist gestorben, als er ausruhte, der andere hat sich versehentlich selbst erschossen. Er war gemeingefährlich.“
„Gemeingefährlich? Und hast Du jedem von diesen Männern auch gesagt, was Du mir gesagt hast? Haben sie mit Dir im Bett geschlafen?“
„Nein, nur Du. Mir kommt es vor, als seien diese beiden Männer nur so etwas wie fehlerhafte Vorentwürfe gewesen, wie als wenn man einen Versuchsballon startet, und noch einen, und beide stürzen ab. Der Dritte fliegt.“
„Und über diese Spekulation hinaus hast Du keine Erklärung dafür?“
„Ich wünschte ich hätte eine. Aber vielleicht wärst Du ohne diese beiden Anderen nicht möglich.“
„Schaue ich in die schwarzen Augenhöhlen von schlechten Kopien von mir? Sind das Klone oder verschollene Drillingsbrüder? Oder bin ich das selbst?“
„Lennox, ich weiß dass Du nicht diese beiden Männer bist. Du bist der Echte, der Lebende.“
„Aber alle guten Dinge sind drei. Was ist, wenn auch ich plötzlich sterbe?“
„Ja, alle guten Dinge sind drei. Und Du bist der Dritte, der, der es gut macht. Der gut ist.“
„Es ist nicht gerade ein erhebendes Gefühl, wenn man damit konfrontiert wird, dass man nicht einzigartig ist.“
„Ich wusste dass Du das sagen würdest. Doch Du bist einzigartig. Ich denke, das ist die Lehre, die man daraus ziehen muss.“
„Wie haben diese beiden Männer gelebt? Wer vermisst sie? Wo sind ihre Familien?“
„Niemand hat je nach ihnen gefragt. Sie sind aus einer unbekannten Welt hier herüber geglitten, vielleicht bist Du das auch. Vielleicht gibt es, wenn man es von dieser Seite des Sees betrachtet, Dein Dorf gar nicht. Vielleicht ist der See eine Grenze nicht nur zwischen zwei Ländern, sondern zwischen vielen Möglichkeiten. Und vielleicht bin ich selbst eine Ursache dafür, was an diesem Steg landet.“
„Du meinst ich bin von Dir hergewünscht worden?“
„Nicht direkt. Vielleicht gibt es eine unbekannte Kraft, die von uns ausgeht und sich auf eine unberechenbare Art manifestiert.“
„Ich kann Dir nur sagen, dass ich gute Erinnerungen an mein Leben habe. Ich weiß, dass es Wirklichkeit war.“
„Das war es auch, aber hier ist es nur Erinnerung. Es ist nicht mehr mit Händen zu greifen. Nicht mehr zurück zu verfolgen.“
„Also sind wir beide das Einzige, was wichtig ist?“
„Ja.“
„Okay, dann schaufeln wir diese beiden Brüder wieder zu. Friede ihrer Asche.“
Lennox half ihr, die Gräber für immer zu schließen.
Tavie fiel auf, dass er seltsam still geworden war. Diese Präsentation der Leichen seiner beiden Doubles hatte ihn verstört, und das konnte sie ihm nicht verdenken.
Im Haus kochte Tavie einen Tee, während Lennox das Foto von Tavies Mann und Sohn betrachtete.
Es gab einen unzulänglichen und einen bösen Lennox. Beide hatte sie überlebt.
Vielleicht hatte Tavie recht. Es schien alles stimmig zu sein, aber Lennox fühlte sich mit dem Gedanken unwohl, dass er eine Art geglücktes Experiment des Schicksals und fremdgesteuert hierher gebracht worden war. Ihm missfiel die Vorstellung, keinen eigenen Willen zu haben. Doch bei näherer Betrachtung musste er eingestehen, dass er sich ohne seinen Willen ins Bein geschossen hatte und das Boot ohne sein Zutun hinausgetrieben war. Er hatte aus eigenem Willen seinen Willen aufgegeben, hatte sich im Suff das Leben nehmen wollen. Er hatte im Vergleich zu den anderen Beiden den geringsten Willen besessen. Vielleicht war er deshalb noch am Leben, doch nichts desto trotz wollte er nun nichts anderes mehr als hier bei dieser Frau bleiben.
Sie sagte, als sie den Tee servierte:
„Ich habe Dir viel zugemutet, aber es musste sein. Du musst auf meiner Wissensstufe stehen, sonst hätte ich immer irgendwas zurückgehalten und mich gefragt, was es mit Dir auf sich hat.“
„Vielleicht bin ich wirklich nur eine Chimäre. Nur eine von drei Versionen von irgendwas. Was hast Du für die Anderen empfunden?“
„Mitleid, Missachtung, Angst, Wut.“
„Und mir gegenüber?“
„Mitgefühl, Gemeinsamkeit, Liebe.“
„Du unterscheidest Mitleid und Mitgefühl. Und diese anderen Empfindungen scheinen nun abgearbeitet. Wie eine alte Haut.“
„Lennox, ich kann Dir das alles nicht erklären, ich bin selbst nur eine Suchende, das habe ich mittlerweile kapiert. Ich dachte meine Ruhe wäre ein Fels, aber sie war auch nur ein Boot. Vielleicht bin ich in diesem Haus nie wirklich zu Hause gewesen. Vielleicht bist nur Du mein Zuhause, und die Orte bedeuten nichts.“
„Komm, lass Dich von mir beschützen. Ich will endlich für jemanden da sein. Mir ist gerade, als hätte ich noch nie etwas festgehalten, das von Wert ist ...“
„Von Wert … Was soll das sein? Was ist ein Wert? Wir entscheiden selbst. Wenigstens das können wir mit Sicherheit sagen.“
„Ich wünschte es wäre so. Wie erkennt man, dass man etwas selbst entschieden hat? Was ist das entscheidende Indiz dafür? Woher weiß man, dass nicht irgendwas einen steuert?“
„Ich entscheide mich, Dich zu küssen. Und ich entscheide mich, Dich zu lieben.“
„Und wenn ich morgen tot bin, verscharrst Du mich dann neben den beiden Anderen?“
„Wenn Du morgen tot bist, dann nehme ich Deine Pistole und schieße mir eine Kugel in den Kopf. Darauf kannst Du Dich verlassen.“ Sie hatte Tränen in den Augen. Er packte sie und ließ nicht mehr los.


Letzter Teil Freitag, 27.06.2014

Donnerstag, 12. Juni 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen – Teil VII



Tavie lächelte, ohne dass Lennox es sehen konnte. Sie kam mit einem großen Teller mit Kartoffeln, geschmolzenem Käse, Brot, Paprika, Peperoni und Quark vor den Kamin.
„Das sieht ja herrlich aus ...“
„Ich horte immer sehr viel Käse, weil ich selbst keinen machen kann.“
„Im Winter ist so ein Essen Gold wert, auch wegen des Vitamin C bei der Paprika und den Peperoni.“
„Ist Dir warm genug?“
„Ja, es ist sehr angenehm.“
„Wie geht es Deinem Bein?“
„Es tut weh, aber nicht so schlimm.“
„Nun iss. Alles wird wieder gut. Du wirst gesund, und dann kehrst Du zurück in Dein Dorf.“
Lennox stöhnte bei dem Gedanken.
Beide aßen und sagten vorerst nichts. Nach dem Mahl entschloss sich Tavie, Lennox' Verband zu wechseln. Diesmal war es anders. Nach dem Gespräch bekam das Verarzten des Beines eine intimere Note, mit der sich Lennox und Tavie vertraut machen mussten. Tavie wusste bereits, dass es zwischen den Beiden eine Verbindung gab, eine Verwandtschaft, doch im Gegensatz zu ihrer Offenheit, die sie zuerst an den Tag gelegt hatte, spürte sie nun ihre eigene Verschlossenheit, und das gefiel ihr nicht. Umso mehr berührte es sie, dass Lennox sie nicht weiter löcherte.
„Du legst Dich jetzt ins Bett.“ sagte sie mütterlich.
„Also gut.“
„Kannst Du aufstehen?“
Sie half ihm. Ächzend nahm er auf ihrem Bett Platz. Er roch ihren Geruch in den Laken.
„Ich kann Dir doch nicht einfach Dein Bett wegnehmen.“
„Hab keine Sorge, da ist ja noch die Couch. Aber sollte ich unbedingt im Bett schlafen wollen, lege ich mich zu Dir.“
Lennox war überrascht. Tavies Ton hatte überhaupt nichts Anzügliches, nur etwas Pragmatisches und Vertrautes. Er legte sich lang und sagte:
„Normalerweise wäre es mir etwas peinlich, im Bett einer fremden Person zu liegen, aber in diesem Fall pfeife ich auf meine Komplexe.“
Tavie musste lachen, sagte aber dann, mit ernsterem Ton:
„Du weißt genau, dass wir beide keine Fremden füreinander sind.“
„Ja, das habe ich sofort gemerkt. Irgendwie ist da dieses Gefühl dass ich Dich schon kenne, aber ich weiß nicht woher. Ich könnte nun wieder irgendwelchen Träumen die Schuld geben ...“
„Träumst Du oft davon, dass Du ein Anderer bist?“
„Das kann vorkommen. Aber ich finde es meist überflüssig, so etwas zu träumen. Und Du?“
„Nein, ich träume anders. Und wie bist Du in Deinen Träumen?“
„Manchmal offener, aber manchmal auch noch viel verschlossener als in Wirklichkeit. Manchmal forsch, manchmal verängstigt.“
„Und kennst Du diese Träume, an die man sich erst erinnert, wenn man im Wachzustand einen Hinweis auf sie erhält? Dass man glaubt, das Erlebte schon einmal in einem Traum gesehen zu haben?“
„Das kenne ich. Aber diese Situation hier habe ich nicht geträumt. Doch um ehrlich zu sein, habe ich mir immer so einen Ort gewünscht. Und deshalb hielt ich es zuerst für einen Traum, hier angekommen zu sein.“
„Schlaf jetzt ein bisschen.“
„Na gut, ich gehorche.“
Tavie saß vor dem Feuer und drehte sich eine Zigarette. Selten während der letzten vier Jahre war sie so durcheinander gewesen. Sie schwankte zwischen Öffnung und Verschlossenheit und befand sich jenseits ihrer Mitte, was aber schon den ersten Lennoxen zu verdanken gewesen war.
Tavie konnte diverse Fragen nicht außer Acht lassen. Was hatte es auf sich mit diesen drei Männern? Wieso war der Erste so unzulänglich und der Zweite so aggressiv, und wieso der Dritte so provokant zauberhaft, so entwaffnend sympathisch und vertrauenerweckend?
Wessen Spiel war das? Waren es Streiche des Schicksals, Ausgeburten eines multidimensionalen Universums, oder gab es irgendwo eine Drillingsfarm?
Nichts davon nahm sie wirklich ernst, obwohl sie einige Möglichkeiten in Betracht gezogen hatte, zum Beispiel dass die ersten beiden Lennoxe nicht real gewesen waren, was jedoch angesichts der Strapazen, sie zu begraben, stark in Zweifel gezogen werden musste.
Der Erste war einfach gestorben, wie eine altersschwache Katze. Der Zweite hatte sich aus Versehen ins Gesicht geschossen.
War dieser neue Lennox einfach nur die goldene Mitte, das schwammige Produkt einer Kompromiss-Philosophie, oder stellte er in Wahrheit die eigentliche Prüfung dar?
Und wenn er ebenfalls plötzlich verstarb?
All diese Gedanken setzten einen gewissen Animismus voraus, einen dahinter steckenden Plan.
Tavie musste einsehen, dass all dieses Spekulieren zu nichts führte, und am Ende nur die Tatsache übrig blieb, dass sie sich von dem neuen Lennox ungeheuer angezogen fühlte.
Und dies schob sich in ihre Mitte.

Lennox spürte, dass Tavie neben ihr lag. Sie berührte ihn nicht, legte sich aber auch nicht demonstrativ an den Rand, um einen größtmöglichen Abstand zu wahren. Er konnte ihren Atem hören und las etwas aus ihm heraus. Denken und Kämpfen. Lennox war sich darüber bewusst, dass er eine Art unvorhergesehenes Phänomen darstellte.
„Bist Du wach?“ fragte sie leise.
„Ja.“
„Hast Du Schmerzen?“
„Nein, es ist gut.“
Sie holte Luft und begann zu erzählen:
„Ich war verheiratet. Gleich nachdem ich mein Voluntariat beendet hatte, entschloss ich mich zu einer festen Bindung, weil ich glaubte, dass ein sicherer Hafen für mich das Beste wäre, um von dort aus an meiner Karriere zu arbeiten.
Ich war nämlich sehr ehrgeizig, musst Du wissen. Die Ehe war so eine Art Anker für mich, und als ich ungewollt schwanger wurde, hat mich das nicht abgehalten, alle beruflichen Chancen wahrzunehmen. Ich kam von einem kleinen Provinzblatt zu einer großen Zeitung in der Stadt und schrieb Artikel über Umweltverschmutzung und politische Skandale. Meine Feder war sehr gefürchtet.
Ich habe es geschafft, zu einem kleinen Teil Mutter und Ehefrau zu sein, aber nicht so, wie es angemessen gewesen wäre, wie man es von mir erwartet hatte. Mein Mann war einfach wunderbar. Er hat mich immer unterstützt und seine eigenen Pläne zurückgestellt. Unser Sohn wuchs heran, und alles schien zu meiner Zufriedenheit. Jeder hat es mir recht gemacht, weil ich die Gabe besaß, meine Interessen als die Interessen aller zu verkaufen.
Schließlich machte ein Gerücht die Runde, nach dem eine große Pharmagesellschaft Experimente mit ahnungslosen Menschen durchführte, also mit Leuten, die sich nicht wehren konnten, weil sie nicht genug Geld hatten, um jemanden zu verklagen. Ich bin der Sache nachgegangen und habe einige sehr brisante Fakten ans Tageslicht gebracht. Ich musste unbedingt an der Sache dran bleiben. Und genau zu diesem Zeitpunkt wurde unser Sohn krank. Leukämie.
Mein Mann kam als Spender nicht infrage. Ich befand mich etwa zweitausend Meilen weit weg und wartete auf das Treffen mit einem wichtigen Informanten, der sich allerdings versteckt hielt. Eine überaus heikle Angelegenheit. Dieser Zeuge hätte den ganzen Konzern in die Knie zwingen können.
Es wurde mir dringend nahegelegt, zurück zu kommen und mein Knochenmark untersuchen zu lassen, aber ich tat es nicht. Ich spielte es herunter und dachte, dass es später noch möglich wäre. Und so schob ich es vor mir her, ganze zwei Monate lang. Natürlich hatte sich mein Mann schon nach meiner ersten Absage von mir distanziert. Doch er flehte immer wieder, ich möge nach Hause kommen und unserem Sohn helfen, aber ich tat es nicht. Die Welt war so lange in Ordnung gewesen, bis diese Sache passierte und etwas von mir abverlangte, das ich nicht geben wollte. Ich hätte nie heiraten und ein Kind bekommen sollen. Und wenn ich es überdenke, habe ich diese natürlichen Muttergefühle nie gehabt. Ich habe auch meinen Mann nicht geliebt. Unser Sohn ist gestorben. Und es war meine Schuld. Ich bin davor nicht weggerannt, aber ich konnte nicht mehr so weitermachen, weil ich plötzlich aufgewacht bin. Zu spät, natürlich. So etwas kann man nicht mit ein paar Therapiestunden und Geständnissen und Selbstanalysen kitten. Das ist unmöglich. Ich musste ganz heraus aus jener Welt. Vielleicht brauchte ich auch eine selbstverordnete Bestrafung.“
„Du bist hieher gezogen, um Dich selbst kennen zu lernen, um herauszufinden, wer Du wirklich bist.“
„Ja, das auch. Und aus Feigheit. Nicht vor den Menschen, die mich für ein Ungeheuer hielten, aber vor der Tatsache, dass ich selbst als dieses Ungeheuer in jener Welt weiterleben sollte.“
„Und wenn alles noch einmal von vorne beginnen würde ...“
„Das ist irrelevant. Mein altes Ich würde wieder denselben Fehler machen, und mein neues würde es gar nicht erst so weit kommen lassen.“
„Und wenn Du Dich nun charakterisieren müsstest ...“
„Ich würde mich nicht beurteilen. Nicht werten. Ich lebe im Jetzt und versuche nur, meiner Gegenwart gerecht zu werden. Es würde mich umbringen, wenn ich den Selbstvorwürfen freien Lauf lassen würde. Es hat keinen Sinn. Ich kann nur alleine mit mir selbst einem gewissen Anspruch gerecht werden.“
„Glaubst Du, Du wirst irgendwann einmal in die Zivilisation zurück kehren?“
„Ich bin meine eigene Zivilisation. Fragt sich die Wüste, wann sie zum Meer wird? Fragt sich ein Berg, ob er lieber ein Tal wäre?“
„Du kannst also nur als eigene Welt existieren.“
„Ja, so ist es.“
„Ich bedaure Dich nicht. Und ich verurteile Dich auch nicht. Es ist furchtbar, was da geschehen ist, aber mir erscheint es sinnlos, es erneut in die Waagschale zu werfen. Ich weiß nur, dass Du mein Bein verbunden und mir Unterschlupf gegeben hast.“
Lennox schwieg nun.
Tavie drehte sich zu ihm und berührte seine Wange.
Er schaute sie an.
„Ich werde nun schlafen, mein netter Besucher ...“
„Gut, schlafen wir.“
Tavie wollte ihm nah sein, wollte wissen, wer oder was er war. Doch sie wusste, dass er ihr keine Antworten geben konnte, die über das Reale hinaus gingen. Doch bevor er wieder einschlief, sagte sie ihm ganz ungefiltert und ohne Vernunft:
„Ich liebe Dich.“
Er drehte seinen Kopf zu ihr und sagte gerührt:
„Nun lässt Du mich wieder glauben, dass dies ein Traum ist.“
„Also gut, dann träumen wir halt ...“


Nächster Teil Freitag, 20.06.2014


Donnerstag, 5. Juni 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen – Teil VI



Beim ersten Lennox und seiner Hilflosigkeit dachte sie für fünf Sekunden, dass er ihr gefallen könnte, und selbst bei dem zweiten hatte sie es gedacht, aber nur für eine halbe Sekunde. Bei diesem, welcher genauso viel oder so wenig echt war wie die anderen, hatte sie das Gefühl die ganze Zeit über. Er hatte sie sofort auf die Bilder an den Wänden angesprochen und sich Anteil nehmend gezeigt, ohne aufdringlich zu sein. Er hatte an sie gedacht. Der Erste hatte zwar auch nach ihrem Leben gefragt, aber nur um es abzuhaken, nur aus kurioser Neugier heraus.
Tavie stellte fest, dass Menschen, die einem anderen Menschen begegneten, der ihnen sympathisch war, immer an der Echtheit zweifelten. Zu oft waren sie enttäuscht oder hinters Licht geführt worden, zu oft war der schöne erste Schein nach kurzer Zeit abgeblättert.
Gefragt zu werden, ob man real war, konnte ein schönes Kompliment sein.
Tavie betrachtete den neuen Lennox, der nun friedlich schlief. Es war verblüffend, dass er, obwohl er genauso aussah wie die vorigen beiden, eine ganz andere Ausstrahlung besaß. Etwas an ihm bewies die Existenz einer Persönlichkeit, und man fühlte sich wohl in seiner Gegenwart.
Nun fragte sich Tavie, ob er auch solche törichten Überfälle verübt hatte wie der erste Lennox, vom zweiten ganz zu schweigen, von dessen Taten sie nichts erfahren hatte, die sie sich jedoch ausmalen konnte.
Es fiel ihr sehr schwer, sich vorzustellen, dass dieser neue Lennox etwas Böses getan hatte. Und nun ging ihr auf, dass ihr das auf einmal wichtig geworden war.

Sie ging noch nicht zu Bett, lag auf dem Sofa und las. Irgendwann, als die Nacht schon alt und das Feuer im Kamin nur noch Glut war, wachte Lennox auf.
„Es war also kein Traum. Ich bin tatsächlich hier.“
„Ja, das bist Du.“
„Entschuldige, aber hast Du vielleicht etwas zu trinken, mein Kehle ist wie ausgetrocknet.“
„Oh entschuldige, natürlich.“
Tavie holte den Scotch. Und nachdem Lennox seine Füße wieder auf den Boden gestellt hatte, setzte sich Tavie auf den Sessel ihm gegenüber. Sie warf noch einen Scheit Holz in den Kamin und goss zwei Gläser ein.
„Ich denke ich sollte Dir jetzt mal erzählen, was es mit meiner Flucht auf sich hat. Das bin ich Dir schuldig.“
„Nein, nicht schuldig, aber ich muss zugeben, neugierig geworden zu sein.“
„Also gut, dann werde ich mal beichten. Du musst wissen, dass ich niemanden bedroht habe. Und ich habe genaugenommen auch kein Verbrechen begangen. Drüben auf der anderen Seite, Millionen gefühlter Meilen von hier entfernt, wohnte ich in einem kleinen Dorf am Ufer des Sees, und in den letzten zwei Jahren hat sich dieser Ort zu einem Tourismusmagneten gemausert, weil eine Sängerin, die über Nacht ein großer Star geworden ist, dort geboren wurde. Sie hat dort nicht mal ihre Kindheit verbracht, nur geboren wurde sie dort. Du musst wissen, dass ich ein Einzelkind bin, und früher, als ich noch ein Junge war, nur sehr wenige Freunde gehabt habe, weil ich keine anderen Kinder mochte. Und ich mochte auch keine Erwachsenen. Leider hat sich das nicht gebessert, als ich selbst erwachsen wurde. Ich habe nie viele Menschen um mich herum ertragen. Ich empfand es als äußerst beklemmend, mich in Restaurants oder auf Veranstaltungen aufzuhalten.
Jedenfalls wurde die Tatsache, dass unser Ort plötzlich so überlaufen war, für mich zu einem reinen Horrorszenario. Vorher war es immer ruhig gewesen, und ich habe jeden im Dorf gekannt. Ich habe keine wirkliche Angst vor Menschen, aber sie sind mir einfach unangenehm. Ich hasse sie nicht, aber es geht mir besser, wenn keine in der Nähe sind.
Es hört sich sehr schlimm und bösartig an, wenn ich das so sage, aber viele Menschen sind für mich schlimmer als eine Badewanne voller Kakerlaken. Schlimmer als ein Schiffsdeck voller Ratten, schlimmer als in einem Terrarium voller Giftschlangen zu stehen. Ich musste zu einem Arzt, einem Seelenklempner, aber der gab mir nur solche blödsinnigen Konfrontationsaufgaben auf. Ich sollte mich dem Problem stellen und nicht davor weglaufen. Nun, ich wollte nicht, dass meine Abneigung verschwindet, sondern dass die Menschen verschwinden. Ich wollte mich nicht verändern, verstehst Du? Diese Eigenart ist genau das, was sie ist. Sie ist mir eigen. Ich bin weder stolz darauf, noch halte ich sie für eine Tugend, sie ist einfach ein maßgeblicher Teil meiner Persönlichkeit. Aber ein Arzt, oder auch die Gesellschaft, will, dass man sich ändert, dass man sich angleicht, und das wollte ich nicht. Jeden Tag Hunderte, Tausende von Menschen in unserem Kaff. Man konnte nirgends mehr hingehen, ohne sich durch einen Schlamm aus Homo Sapiens drängen zu müssen. Und es ist nur logisch, dass man sich inmitten dieses Chaos einsamer fühlt, als wäre man der einzige Mensch auf der Welt. Ich war wirklich am Durchdrehen, Tavie ...“
Indem er ihren Namen sagte, so mitten in seiner Erzählung, erzeugte bei ihr eine ungeheuer starke Rührung. Ergriffen fragte sie:
„Und was hast Du dann getan?“
„Eine sehr kurze Zeit habe ich tatsächlich versucht, damit klar zu kommen. Doch je länger dieser Andrang dauerte, desto schlimmer wurde es mit mir. Und ja, ich hatte die Idee, mir das Leben zu nehmen.“
„Konntest Du nicht einfach fortgehen?“
„Ich hätte meine Heimat aufgeben müssen. Und woanders wäre ich auf dasselbe Problem gestoßen. Ich hätte mir einen einsamen Ort suchen sollen, aber dazu fehlte mir die Kraft.“
„Was hast Du denn gearbeitet?“
„Ich habe Bücher übersetzt. Ein Job, den man ganz alleine tut. Na jedenfalls habe ich mir diese Pistole besorgt, von einem Bekannten. Und eines Abends habe ich sie mit mir herumgetragen, bin dann mit einer Flasche Scotch am Ufer gelandet und habe mich betrunken. Ich wollte mir den Mut antrinken, mir das Leben zu nehmen.
Frag mich jetzt nicht, wie es genau passiert ist, denn ich war stockbesoffen. Aber ich denke ich habe mir selbst ins Bein geschossen und bin in dieses Boot gefallen.
Stunden später bin ich aufgewacht und befand mich schon mitten auf dem See. Ich sah überhaupt kein Land mehr … Und deshalb dachte ich auch, dass ich träume, als ich dieses einsame Haus sah. Und Dich. Ich dachte, es kann nicht wahr sein, dass mir etwas begegnet, was ich mir tief im Innern ersehnt hatte. Nur einen Menschen, und die Einsamkeit, die Stille ...“
Tavie sagte nichts, sondern sah ihn nur an. Er wirkte leicht euphorisch und fragte:
„Ist es bei Dir auch so? Dass Du hierher gezogen bist, weil Du keine Menschen erträgst?“
„Wir haben sehr viel gemeinsam, Lennox. Aber aus diesem Grund bin ich nicht hier. Sag, möchtest Du Dich hinlegen? Mein Bett steht dort hinten.“
„Dein Bett? Und wo schläfst Du?“
„Vielleicht schlafe ich überhaupt nicht.“
„Hältst Du mich jetzt für bescheuert, weil ich so eine Macke habe?“
„Nein. Ganz und gar nicht. Hast Du Hunger?“
„Um ehrlich zu sein, ja.“
„Ich auch. Ich mache uns ein wenig Brot und Käse warm.“
Lennox spürte, das Tavie ein wenig aufgewühlt war von seiner Erzählung. Sie kämpfte mit etwas, aber vielleicht wusste sie selbst nicht, mit was.
Lennox machte sich nützlich und bearbeitete das Kaminfeuer.
„Ich hatte bei mir zu Hause auch einen Kamin. Und ich hatte auch viele Bilder an den Wänden, aber von Orten, an denen ich noch nie war. Ich bin nicht so viel herumgekommen.“
„Was für Bücher hast Du denn übersetzt?“ fragte Tavie, während sie den Ofen wärmte und den Käse schnitt.
„Alle möglichen. Romane, Reiseberichte, Geschichtsbücher.“
„Hast Du nie darüber nachgedacht, selbst etwas zu schreiben?“
„Ich schreibe ja selbst. Aber ich habe es nie jemandem gezeigt.“
„Das ist schade.“
„Und Du, was hast oder hattest Du für einen Beruf?“
Tavie antwortete kühl:
„Journalistin.“
Lennox war verblüfft. Das hatte er nicht erwartet. Er spürte jedoch, dass ihr das Thema unangenehm war,
„Nun, dann haben wir etwas gemeinsam. Wir beide schreiben, auf die eine oder andere Art.“
„Oh, hier sind ja noch Kartoffeln, die mache ich auch warm. Das ist gut, Käse und Kartoffeln.“
Lennox sah auf Tavies Schreibtisch jede Menge Papier und Bücher. Sie hatte ihn nach dem Schreiben gefragt, aber wenn es um sie ging, wollte sich nicht darüber sprechen. Er war nicht der Typ, der unangenehm insistierte, also verlegte er sich darauf, auf sie einzugehen:
„Eine Freundin, ein Freund und ich haben immer zu gewissen Anlässen Raclette gemacht.“
„Aha, also hattest Du Freunde ...“
„Ja, wenige. Eine Frau und zwei Männer. Die haben mich akzeptiert, und immer wenn irgendwelche größeren Feste anstanden, vermieden sie es, mich einzuladen. Das war sehr rücksichtsvoll.“
„Und die Frau war auch Deine Freundin?“
„Ja, das war sie, aber nicht sehr lange. Sie hat es nicht ausgehalten mit einem Mann, der nie unter Leute geht. Es gab ein Lokal, das ich gerne besucht habe, aber mehr auch nicht. Und manchmal konnte ich auch ins Kino gehen. Und das wurde ihr mit der Zeit zu eintönig. Doch wir blieben Freunde. Sie ist jetzt verheiratet und hat eine Tochter. Der Mann ist Polizist.“
Lennox musste darüber lachen. Tavie fragte:
„Ist das so komisch?“
„Ja, das ist es. Polizisten haben ja viel mit Menschen zu tun ...“
Tavie lachte mit. Dann fragte Lennox:
„Aber ich vermute, Dir ist es unangenehm, über Deine Vergangenheit zu sprechen, oder? Du wolltest sie endgültig hinter Dir lassen.“
„Die Vergangenheit ist sowieso hinter mir, ganz automatisch.“
„Wenn Du Dir dieser Sache tatsächlich so sicher bist, wärst Du kaum hierher gezogen. Du wolltest nichts mehr mit all den Dingen zu tun haben, die in Dir Erinnerungen wach rufen.“
„Die Erinnerung ist in mir drin. Und ich bin vor nichts davon gelaufen. Ich habe nur etwas verändert.“
„Aber dafür gab es einen ganz bestimmten Grund.“
„Das kann ich nicht leugnen.“
Lennox sah, dass Tavie bei dem Thema ein wenig ungehaltener wurde. Er wollte nicht aufdringlich sein und stellte keine weitere Frage. Tavie hingegen sagte:
„Für jemanden, der so wenig mit Menschen zu tun hat, besitzt Du ganz schön viel Empathie und Neugierde.“
„Schließt das eine das andere aus? Ich interessiere mich für bestimmte Menschen, aber ich muss nicht zwingend in ihrer Nähe sein.“
„Tja, nun bist Du in der unglücklichen Lage, Dich in der Nähe eines anderen Menschen zu befinden. Sei vorsichtig, so etwas kann Folgen haben ...“

„Du weißt, dass ich jetzt sagen muss, dass es für mich ganz und gar kein Unglück ist, hier zu sein. Ich habe das Gefühl, dass wir beide einander verstehen, und das erlebe ich sehr selten. Es ist sehr schön.“


Nächster Teil Freitag, 13.06.2014


Freitag, 30. Mai 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen – Teil V




Als der erste Schnee fiel, richtete sich Tavie einen kleinen Verschlag ein, um Wildfleisch aufzuhängen. Darunter Hase, Eichhörnchen und sogar Reh. Tavie schaute mittlerweile an einem Abend pro Woche Fernsehen und benutzte es, um ihr geistiges Spektrum an dem der Außenwelt zu messen. Zufrieden stellte sie Woche für Woche fest, dass sie sich genau in einer richtigen Balance zu ihrer Mitte befand, sich nun jedoch erlaubte, mal einen Tag traurig oder verstimmt zu sein. Es kam auch vor, dass sie an einem Tag das Bett überhaupt nicht verließ oder sich betrank. Die meiste Zeit jedoch schrieb sie, erfand Geschichten von Tieren und manchmal auch von Fabelwesen, die sowohl grimmig und hinterlistig, als auch liebebedürftig und weise sein konnten. Die Reibung der Figuren in ihren Geschichten hielten ihren Geist und ihre Leidenschaft wach, und man könnte sagen, dass sie mit einer neuen Art inneren Kampfes einen besseren Umgang mit bisher verdrängten Teilen ihrer Persönlichkeit lernte.
Sie fegte den Schnee vom Steg, setzte sich nieder, ganz nach vorne, und ließ ihre Beine herunter baumeln. Der Himmel war grauweiß, die Baumwipfel bestäubt von Schnee, und der See dunkel.
Zum ersten Mal, seit sie hier wohnte, dachte sie über Weihnachten nach und was es als Kind für sie bedeutet hatte. Geschenke über Geschenke, Gebäck und Lieder, und überall die warmen Lichter und das seltene Erlebnis, dass alle nett zueinander waren.
In der Ferne, irgendwo zwischen der Schnittstelle zwischen See und Himmel, kam ein Boot geschwommen. Sofort stand Tavie auf beiden Beinen und schärfte ihren Blick.
Der Boot schien nur zu treiben. Und die Person, die sich darin befand, regte sich nicht. Tavie wurde von einer starken Aufregung erfasst. Dazu kam ein wenig Sorge, und auch ihre Neugier.
Der See trieb das Boot zum Steg. Ganz langsam.
Der Mann lag wie ein Kind darin, wie Moses im Binsenkörbchen, und er war nicht bei Bewusstsein.
Tavie konnte es nicht abwarten, ihn genauer zu betrachten. Seine Kleidung schimmerte weiß vom letzten Schneefall.
Tavie nahm eine lange Stange, die auf dem Steg lag, und versuchte damit, das Boot heran zu holen.
Als sie es zu fassen bekam, versuchte sie, es mit der Stange notdürftig zu fixieren.
Plötzlich wachte der Mann auf und hob den Kopf. Er sah aus wie Lennox, wie der eine und wie der andere.
„Wo bin ich?“ fragte er.
„Bei mir.“ Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er bewaffnet war, doch sie ließ es bleiben.
„Komm, ich helfe Dir aus dem Boot. Kannst Du aufstehen?“
„Moment, ja, ich denke schon. Ich bin verletzt. Am Bein. Aber es geht.“
Tavie nahm seine Hand, an der er sich auf den Steg zog. Es stimmte. Er konnte nur auf einem Bein stehen. Tavie konnte nicht anders und hakte sich bei ihm unter.
„Das ist aber sehr nett. Wo bin hier hin geraten? Mir scheint, ich habe die Grenze hinter mir gelassen.“
„Das stimmt.“
Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass es dieser Mann zunächst einmal nicht böse mit ihr meinte. Und er benötigte dringend Hilfe.
Als Tavie ihn im Haus in den Sessel gleiten ließ, fiel dem Mann eine Pistole aus der Jacke.
„Oh Schreck, bitte hab keine Angst, ich hatte nicht vor-“
Tavie unterbrach ihn:
„Gut, darf ich die Waffe an mich nehmen? Du willst mich doch sowieso nicht erschießen, oder?“
„Das hatte ich nicht vor. Gut, nimm sie an Dich, Es ist okay. Wie heißt Du?“
„Tavie.“
„Schöner Name.“
Tavie machte nicht den gleichen Fehler wie bei dem zweiten Lennox:
„Und wie heißt Du?“
„Lennox.“
Tavie tat überrascht und huschte in den Küchenbereich, um Wasser heiß zu machen.
Lennox hatte das Bedürfnis, sich zu erklären:
„Wegen der Waffe, also, ich bin ein wenig mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Bin angeschossen worden. Die Kugel ist glatt durchgegangen. Jetzt denkst Du sicher, ich sei ein Schwerverbrecher, aber ich bin nur ein blutiger Anfänger. Sag mal, Du lebst alleine hier?“
„Ja.“
„Das finde ich nett. Es ist schön hier. Und Du warst wohl schon an sehr vielen Orten auf der Welt, nach den Fotos an der Wand zu urteilen.“
„Woher willst Du wissen, dass die Fotos von mir sind?“
„Das ist nicht schwer zu erkennen. Sie haben so einen Ausdruck des Persönlichen.“
„Ich mache Dir einen Verband, aber erst möchte ich die Wunde reinigen.“
„Ich denke, ich werde es überleben.“
Tavie setzte sich vor ihm nieder und krempelte sein Hosenbein hoch.
„Aua!“
„Das hat schon weh getan? Hm, wir sind wohl ein wenig empfindlich, oder?“
„Das ganze Bein schmerzt. Ich kann nichts dafür.“
„Mit dem Gesetz in Konflikt und angeschossen. Wie viel Dummheit war dafür nötig?“
„Eine Menge. Dafür dass ich die letzten Jahre so klug gewesen bin, war das ein logischer Ausbruch an Dämlichkeit. Aber so plötzlich, so als wenn ich es mir nicht hätte aussuchen können. Mein Gott, ich dachte dieser See hört nie wieder auf. Aber er hat.“
Tavie schaute zu ihm auf:
„Jeder See endet. Sei froh, dass Du es geschafft hast.“
Lennox begriff erst jetzt, wie seltsam diese Situation war:
„Du benimmst Dich, als würdest Du jeden Tag Leute aus einem Boot auflesen.“
„Oh nein, nicht ganz jeden Tag.“ sagte sie und kicherte ein wenig. „Für Dich geht gerade alles sehr schnell, weil Du so lange herumgelegen hast, verwundet und unterkühlt.“
Tavie säuberte die Wunde mit einem Tuch. Lennox bemühte sich, nicht zu wehleidig zu sein, aber es schmerzte sehr.
„Tut mir Leid, wenn es Dir weh tut. Aber es geht nicht anders.“
„Kein Problem.“
Tavie war verblüfft, weil dieser Mann genauso aussah wie die beiden anderen, doch in seiner Art und in seiner Sprache sich von ihnen meilenweit unterschied. Es war ein auf den Kopf gestelltes Déja Vu. Sie sah den schwachen ersten Lennox in ihm, auch den feindseligen zweiten, aber dennoch sah sie nun einen neuen Mann, und dessen war sie sich sofort bewusst geworden, als sie ihn als den jetzigen und nicht als einen der anderen Lennoxe erkannt hatte.
„Wenn ich wieder laufen kann, werde ich sofort verschwinden.“
„Nicht so schnell. Vielleicht ist die Wunde infiziert. Und vielleicht muss ich Dir das Bein abnehmen.“
„Du willst mir nur Angst machen, hm?“
„Ja, ein wenig. Um Dich zur Vernunft zu bringen.“
„Ich fühle mich so komisch. Träume ich? Oder bin ich tatsächlich hier? Bist Du echt? Oder nur ein guter Geist?“
Tavie lächelte:
„Ich bin so echt wie ich heute morgen aufgewacht bin. So echt wie das Boot.“
„Aber nicht so unbequem. Willst Du gar nicht wissen, was ich angestellt habe?“
„Ich dränge Dich nicht. Bestimmt hast Du eine sehr spannende oder traurige Geschichte zu erzählen.Aber das ist jetzt nicht wichtig.“
„Das meinst Du ganz ehrlich, oder? Es ist Dir egal ...“
„Nun, einer erzählt etwas sehr Ergreifendes, damit man Mitleid mit ihm hat, ein anderer stilisiert sich zum Helden. Und Du bist vielleicht jemand, der es ganz nüchtern und selbstkritisch sieht. Das reicht mir für den Moment.“
Lennox wunderte sich über Tavies Ausführungen. Der Kamin flackerte und knisterte.
„Ich neige nun dazu“ sagte er, „einfach alles geschehen zu lassen. Das ist bestimmt nur ein schöner Traum, und jeden Augenblick wache ich auf und liege wieder im Boot …“
„Schsch ...“ machte Tavie, als sie ihm den Verband anlegte. Lennox gehorchte und sagte nichts mehr. Anschließend schob sie den zweiten Sessel so, dass Lennox seine Füße drauflegen konnte.
„Das ist so schön … Danke ...“
„Ich hole Dir noch eine Decke.“
„Kannst Du, aber im Moment geht es mir wunderbar.“
„Dann lasse ich Dich ein wenig ausruhen.“
„Warte mal. Jetzt mal ehrlich: Du bist wirklich echt, oder?“
„Die Schmerzen sollten Dich davon überzeugt haben.“
„Das stimmt …“
Tavie ließ ihn ein wenig dösen und machte sich in der Küche nützlich. Es war ein komisches Gefühl, ihn fragen zu hören, ob sie echt war. Denn eigentlich hätte sie ihn das ihrerseits immer wieder fragen sollen.
Obendrein bekam sie ein Gefühl, dass sie nicht nur bei den anderen nicht gehabt, was sie sogar mehrere Jahre nicht mehr erlebt hatte – Zuneigung.



Nächster Teil Freitag, 06.06.2014