Lusias
Praxis
Ihr
Partner Doktor Mintal steckte verschämt seine Zigaretten wieder ein.
Lusia nickte besänftigend und ließ den drohenden Blick verfliegen.
Sie hatte den Kollegen nicht erschrecken wollen, musste aber vor sich
selbst zugeben, dass es von Vorteil sein konnte, eine schwarze
Pantherdame unter den Menschen zu sein, gerade wenn man einen Doktor
in Psychologie vorweisen konnte.
Doktor
Mintal, ihr neuer Kompagnon in der frisch eingerichteten Praxis,
lehnte sich zurück und versuchte, nicht wie ein neugieriger „Mensch“
zu klingen – diese hatte Lusia schon zu genüge erdulden müssen.
„Ja,
äh … Frau Kollegin, was machen Sie eigentlich, wenn einer Ihrer
Patienten, na ja, aus irgendeinem Grund-, ich meine, das muss ja
nicht zwangsläufig an Ihrem Äußeren liegen, Sie verstehen? Also
wenn ein Patient – warum auch immer – auf Ihre Therapie nicht
anspricht?“
Lusia
leckte sich die Pfote. Sie lehnte es ab, Doktor Mintal mit unnötig
politisch korrekten Phrasen seine innere Ruhe wieder zu geben:
„Ich
beiße.“
„Sie
BEISSEN?“
„Im
Gegensatz zu den Hunden, deren Halter immer beteuern: 'Der tut
nichts!', sage ich: 'Ich tue was.'.“
Doktor
Mintal nickte zögerlich und überlegte. Das kann ja heiter werden
mit dieser Katze.
„Also,
Frau Kollegin, ich will mal ein wenig Verdrängungsarbeit leisten und
annehmen, Sie meinen das rein metaphorisch. Ich weiß zwar, dass Sie
eine Sympathisantin der Konfrontationsmethoden sind, aber wir möchten
doch hier um Gotteswillen kein Blut sehen.“
Lusia
blinzelte zweideutig:
„Ich
lecke es zur Not auch auf, Herr Kollege.“
Mintal
versuchte ein schütteres Grinsen, nickte und verließ den
Behandlungsraum.
So,
hier war sie nun. Lusia, südamerikanisches Pantherweibchen mit einem
Doktor in Psychologie und einer Gemeinschaftspraxis in der
Stadtmitte. Ihr waren bereits einige Patienten zugeteilt worden, und
sie würde, wenn Doktor Mintal sich ein wenig an sie gewöhnt hat,
auch welche von ihm übernehmen, damit er sich mehr um seine kranke
Frau kümmern konnte.
„Frau
Doktor, Sie haben bereits eine Nachricht auf ihrer Mailbox.“ sagte
Erwin, der flinke Erwin Sielke, ihr persönlicher Assistent, der sich
als williges Faktotum jeder Situation anpassen konnte, manuelle
Aufgaben erledigte und den Raum mit ihr teilte, solange keine
Patienten anwesend waren.
„Lassen
Sie hören.“
Der
Lautsprecher brummte. Eine Stimme erklang:
„Guten
Morgen, hier Knut Fötzchen von der Acta Germania. Ich hatte bereits
mehrere Male wegen des Interviews angefragt und wollte nun-“
Erwin
stoppte die Aufzeichnung. Lusia schüttelte den Kopf:
„Wieso
missachtet dieses Arschloch schon wieder die Unterlassungsklage?“
„Frau
Doktor, soll ich das Gericht anrufen?“
„Lassen
Sie mal gut sein. Gibt es Patienten heute?“
„Eine
Frau Pinelto um elf.“
„Dann
lege ich noch für ein halbes Stündchen meinen Kopf auf die Arme.“
„Sehr
wohl, Frau Doktor. Ich werde ganz leise sein.“
Der
gute Erwin Sielke. Lusia war froh, dass er nicht Rilke hieß.
Lusia
schloss die Augen und träumte von einem sanft tanzenden Blätterdach.
Erwin sah sie an und fand, dass sie wunderschön aussah in der
Mittagssonne. Ihr Fell glänzte wie poliertes Silber.
Frau
Pinelto war etwas beleibt und hatte schlechte dünne Haare – ein
typisches Anzeichen für seelisches Ungleichgewicht. Natürlich
wusste die Patientin, dass sie von einer Raubkatze behandelt werden
würde, aber der Anblick von Lusia machte sie nun doch ein wenig
nervös. Doch die Pantherdame gab sich ganz sanft und vertrauensvoll,
und schon nach wenigen Minuten des Smalltalks bemerkte Lusia wieder
dieses interessante Phänomen bei Patienten, dass sie anscheinend
nach einer kurzen Eingewöhnung beinah froh schienen, nicht mit einem
Menschen sprechen zu müssen. Die Konversation mit einer anderen
Spezies wirkte belebend und ermutigend auf sie.
„Frau
Pinelto, Sie hatten über Wahnvorstellungen geklagt. Wie äußern die
sich?“
„Das
geht nun schon einige Monate so. Ich habe die fixe Idee, Nastassja
Kinski zu sein.“
Lusia
legte den Kopf schräg. Frau Pinelto räusperte sich:
„Sie
wissen doch: Diese Schauspielerin, die Tochter von Klaus Kin-“
„Ich
kenne Nastassja Kinski.“
„Nun,
äh, uh, ich weiß, dass sie mir nicht gerade ähnlich sieht … Sie
ist so schlank, so grazil, so schön, wenigstens zu ihrer besten Zeit
...“
„Ich
finde es unter diesem Gesichtspunkt ganz logisch, dass Sie sich
wünschen, diese Frau zu sein. Doch muss ich Ihnen ein wenig den Kopf
waschen, wenn ich Ihnen sage, dass, wenn jemand hier im Raum
Nastassja Kinski sein sollte, ich diejenige wäre, zumindest
mit einem größeren Anrecht auf diese Illusion.“
„Ja,
ich weiß, wegen diesem Film, in dem sie sich in einen Panther
verwandelt.“
„Korrekt.
Also, es gibt immer jemanden, der eine Sache mehr verdient als man
selbst.“
„Ja,
das stimmt wohl.“
„Aber
wir haben durch unseren freien Geist die Wahl zu sein, wer wir
möchten. Ungeachtet der anderen Leute. Die Evolution hat bestimmt
nicht vorgesehen, dass ich ein Psychologiestudium absolviere. Man
braucht sich nicht immer an Vorgaben zu halten, denn die werden
häufig von Leuten aufgestellt, die selbst nicht genau wissen, wo sie
im Leben stehen. Die Vorgaben helfen ihnen, sich zu orientieren, und
unsereins muss dann unter ihnen leiden.“
„Das
habe ich so noch gar nicht gesehen.“
„Tja,
dafür bin ich da. So, und nun raus hier.“
Nachdem
Frau Pinelto milde verblüfft die Praxis verlassen hatte, ließ sich
Lusia von Erwin einen Rippensnack servieren.
„Wieder
eine Nachricht auf der Mailbox. Frau Doktor.“
„Bin
ganz Ohr.“
Die
Aufzeichnung wurde abgespielt:
„Ja,
hier nochmal Knut Fötzchen von der Acta Germania. Es betrifft meine
Anfrage für ein Interview. Wir können es auch telefonisch führen.
Bitte melden Sie si-“
Erwin
unterbrach die Nachricht. Lusia überlegte.
„Wenn
ich jetzt noch einmal beim Gericht Dampf mache, halten die mich doch
für eine überempfindliche Paranoikerin. Eine Diva im Katzenfell.“
„Vielleicht
wäre ein letztes Interview nicht so schlecht.“
Lusia
nieste und gab sich noch ein paar Minuten bis zum nächsten
Patienten. Es handelte sich um Jost Äbelmann, den Lusia schon aus
ihrem Praktischen Jahr kannte.
„Frau
Doktor Lusia, ich bin ja so froh, dass Sie nun endlich praktizieren!“
sagte er bei der Begrüßung.
„Kommen
Sie zur Sache, Jost.“
„Tja
also, es ist eigentlich immer noch der alte Hut, Frau Doktor Lusia.“
„Ach.“
„Ich
mache mir immer noch Sorgen wegen meiner Frau, Doktor Lusia.“
„Präzisieren
Sie das.“
„Sie
nennt mich Hamlet. Sie hat Theater studiert.“
„Aha,
und jetzt macht sie welches.“
„Sie
hält mich für unfähig, Entscheidungen zu fällen. Kennen Sie
Hamlet?“
„In
groben Umrissen. Ich habe auch schon mal einen Totenschädel in den
Pranken gehabt.“
„Oh,
ha ha, ich verstehe. Hamlet war immerhin Prinz! Meine Frau wertet
mich gleichzeitig herauf und herab, nur mit der Nennung dieser Figur.
Hamlet ist ja schon ein Synonym, eine Ikone der Unentschlossenheit.
Um meiner Frau das Gegenteil zu beweisen, habe ich uns vor kurzem ein
Boot gekauft. Und was macht sie? Sie lobt mich und sagt, dies sei
eines Prinzen würdig.“
„Ach
Herr Äbelmann, wir wissen doch beide, was Sie wirklich sind.“
„Ja,
ich weiß.“
„Sie
sind ein Mopsgesicht. Es gibt Ehefrauen, die nennen ihre Männer
Versager, Schlappschwanz oder Maulheld. Ihre nennt Sie Hamlet. Was
erwarten Sie eigentlich?“
„Ich
wil nur als ich selbst wahrgenommen werden.“
„Bravo.
Dann stellen Sie sich bitte jeden Morgen eine Minute nach dem Duschen
vor den Badezimmerspiegel und sagen sich: 'Ich bin ein Mopsgesicht'.“
„Kann
ich von mir selbst nicht ein wenig mehr verlangen?“
„Mehr
als Hamlet?“
„Ich
weiß was Sie meinen.“
„Was
sind Sie?“
„Ein
Mopsgesicht.“
„Was?“
„Ein
Mopsgesicht.“
„Hervorragend.
Und jetzt raus hier.“
Abelman
stand auf:
„Haben
Sie genug zu fressen? Ich könnte nächstes mal ein paar Rinderkeulen
mitbri-“
„Ich
bin auf Diät. Raus hier.“
Erwin
ging die neuesten E-Mails durch:
„Sie
haben wieder eine Anfrage von der Christlichen Schizophrenie-Union …
Eine kurze Mitteilung von Unfuckable Petra ...“
„Das
ist Hermann Gaugners Sohn. Können Sie löschen.“
„Hier
etwas von einem Karl Marx – wahrscheinlich ein Pseudonym oder
Nickname.“
„Wäre
ich nie drauf gekommen.“
„Er
schreibt: 'Ich habe lange Zeit meine Exkremente missverstanden.'“
„Schicken
Sie ihm einen Termin.“
„Und
hier etwas von einem Edward Pelz … Ob das auch ein Pseudonym ist?“
„Nein,
Edward Pelz ist ein Internist aus Dortmund. Was schreibt er denn?“
„...
'Liebe Frau Doktor Lusia, es wäre mir eine Ehre, vor Ihnen zu
onanieren.'“
Lusia
gähnte. Erwin lächelte süffisant und fragte:
„Soll
ich dem auch einen Termin geben?“
„Hmm
… Okay, machen wir ihm ein bisschen Hoffnung. Wer ist der Nächste?“
„Dietmar
Jobért, der Meisterkoch.“
„Den
wollte ich eigentlich vergessen haben.“
Dietmar
Jobért war dick und machte einen äußerst glücklichen Eindruck.
„Was
bieten Sie denn heute auf Ihrer Speisekarte an, Dietmar?“
Der
Koch trug zwar Alltagskleidung, doch konnte er sich nicht dazu
durchringen, seine Kochmütze abzunehmen. Er sah sich im
Behandlungszimmer um.
„Warum
keine Bilder vom Dschungel?“ fragte er rotbäckig.
„Haben
Sie zu hause Bilder von ihrer Küche an der Wand, Dietmar?“
„Ja,
das habe ich.“
„ …
Okay, eins zu null für Sie.“
„Und?
Schon viele Verrückte gehabt heute?“
„Nein,
Sie sind der erste.“
Jobért
lachte laut und sagte:
„Kriminalbrot
mit Erdmännchenaugen.“
Lusia
wartete ab. Jobért entdeckte an ihr keinerlei Irritation.
„Kritikmilch
unter Bierbällchen. Blinde-Wut-Suppe.“
Lusia
erinnerte sich:
„Was
ist mit dem aufgeblasenen Ferkelbusen mit Hippieherzen?“
„Sehen
Sie – ich wusste, dass Ihnen das gefallen hat.“
„Sie
verkennen da etwas.“
„Probieren
Sie doch mal Penisbrezeln im Zuckerkörbchen.“
„Wäre
eher was für die Chinesen. Die essen gerne Genitalien.“
„Oder
Brustwarzenkringel junger Nymphen. Nillenkäse, also Smegma, gebacken
und anschließend mit Fingernagelmarmelade im Mixer verrührt und auf
Nutten gespritzt. Glasnudelsoufflé mit Doggenkot, Hornhautklößchen,
Bremer Igelfilz im Dialog mit Krawattenlampen.“
Plötzlich
wurde Lusia ernst:
„Verstümmeln
Sie sich noch immer selbst, Herr Jobért?“
Der
Koch ließ den Kopf sinken. Seine haushohe Kochmütze zeigte schräg
in Lusias Richtung. In ihrer Krone konnte sie Spuren von ergrautem
Hackfleisch erkennen ... Menschen … Wesen im Strudel ihrer
selbstgebauten Abflüsse. Opfer der elektrischen Ströme in ihren
unordentlichen Großhirnrinden.
„Ach
Frau Doktor. Was soll ich nur tun? Nur noch sechs Zehen. Manchmal
stolpere ich über meine Lehrlinge und muss es als Übermüdung
hinstellen.“
„Sie
brauchen eine stationäre Therapie. Ich kann Ihnen nur sehr
eingeschränkt helfen. Sie müssen überwacht werden.“
„ich
weiß, oh je, ich weiß.“
Wenn
eine Spezies mehr aus dem Fressen macht als notwendig, konnte so
etwas wie Jobért dabei herauskommen. Jobért aß seine
abgeschnittenen Zehen nicht, er bewahrte sie in alkoholischer Lösung
auf, für, wie er sagte, spätere Generationen, zum Neuanordnen
seiner DNS. Jobért war neben seiner Kochleidenschaft besessen von
der Gentechnik und der Idee, seine Gedanken während seines
Morilogiums aufzuzeichnen, damit man sie irgendwann, wenn es möglich
war, in etwas Essbares umwandeln würde.
Obwohl
von Jobért prinzipiell angewidert, hatten ihr seine kulinarischen
Ausführungen Appetit gemacht. Sie ließ ihm durch Erwin ein
Beruhigungsmittel geben, worauf Jobért leise in sich hinein weinte,
aber insgesamt entspannter wurde. Er durfte sich nach nebenan auf
eine Pritsche legen und ausruhen. Auf einem Fernseher wurde ihm ein
Film über die Geschichte von Kinderspielzeug gezeigt. Das konnte
Wunder wirken.
„War's
das?“ fragte Lusia ihren Assistenten.
„Es
sei denn, Sie möchten noch eine Nachricht von diesem Journalisten
hören.“
Lusia
machte einen lässigen Wink mit der Pranke und gab Erwin grünes
Licht. Er sah ihr Fell, es irisierte im Sonnenlicht und wirkte
dadurch heller. Man konnte die versteckten Jaguarflecken erkennen.
Das berührte Erwin beinah peinlich, so als ob er einer Menschenfrau
zu tief in den Ausschnitt geschaut hatte.
„Hier
noch mal Knut Fötzchen. Hören Sie, ich habe bereits ein Interview
mit Ihrem afrikanischen Pendant geführt, dem dichtenden Leoparden.
Der ist sehr nett gewesen. Ein echter Profi. Wollen Sie denn für
ewig das Klischee der unnahbaren Raubtierdame bedienen? Diskretion
ist ein zweischneidiges Schwert, Frau Doktor! Verletzen kann man sich
auch bei zu viel Geheimniskrämerei.“
Lusia
sprang von dem Sofa, streckte sich und schaute aus dem Fenster. Dort
stand ein Himmel am Himmel. In Südamerika war es nur Himmel, ohne
Positionierung. Nichts war posiito0niert, nur einfach da.
„Okay
Erwin, schicken Sie diesem Journalisten eine Mail. Fragen Sie Jobért,
ob man Brustwarzenkringel auch aus Männerbrüsten machen kann.“
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