Donnerstag, 10. April 2014

Drei Katzengeschichten - Nummer 1: "Rot werdend das Wanderherz"



Rot werdend das Wanderherz

Glutsonne nimmt Zucker zum Idiom
Ich ob der Flut
Verstandesartig blendend zwischen Spalten
Tundra oder Erz
Kontrollieren über Blütenstaub
Nager verkurvt gegen Zustandglaube
Ich verändere Gröberes nun
Rot werdend das Wanderherz
Hochzeit spendiert und flach
Schläfern und vertristen spielen

Die Zeilen in die Gesäßtasche verschwinden lassend, klopfte der Journalist an die Tür der Hotelsuite und wurde hereingebeten. Sein Interviewpartner lag entspannt auf der Couch und setzte sich aufrecht hin, als der Journalist ihm gegenüber Platz nahm und das Aufnahmegerät anstellte.

"Sie sind in der Öffentlichkeit ja nicht nur als Leopard bekannt, sondern ebenfalls als blendender Dichter und Theoretiker."
"An den Medien stört mich, daß ich bei Zeiten immer noch als Jaguar bezeichnet werde. Lassen Sie mich kurz erläutern, daß ein Jaguar in Südamerika lebt, eine andere Fellzeichnung und einen wesentlich gedrungeneren Körperbau hat. Richtig ist hingegen, daß ich - wie er - ein Einzelgänger bin und nicht auf die Vorteile einer strategischen Jagd im Rudel zurückgreifen kann."
"Wie lebten Sie in Kenia?"
"Ich hatte einen besonders bequemen Baum in der Steppe, von dem aus ich eine große Fläche Land überblicken konnte."
"Die Beute schleppten Sie jedesmal dort hinauf?"
"Ja, selbst Antilopen. Das war kein Problem."
"Hatten Sie irgendwelche besonderen Feinde zu fürchten?"
"Löwen. Die sind unglaublich störend, wenn Beute knapp ist. Einmal mußte ich flüchten, als ich ein ganzes Rudel Weibchen im Mondschein ankommen sah. Besonders ärgerlich war, daß ich am Tag zuvor gerade eine Gazelle erlegen konnte, von der ich noch nicht viel gegessen hatte. Von weitem habe ich beobachtet, wie die Löwinnen versuchten, auf den Baum zu klettern. Eigentlich ein lustiger Anblick, wie sie ungelenk versuchen, das Tier mit ihren Pranken vom Ast zu zerren. Eine der Löwinnen war clever, denn sie hat unten gewartet, bis die Gazelle runterfällt. Das ist dann auch passiert, und sie hat sich schnell mit ihr davongemacht. Ich konnte erst nach Stunden zurück zum Baum. Löwen erschweren einem noch zusätzlich die Arbeit. Aber ansonsten kam ich ganz gut zurecht."
"Und trotzdem haben Sie sich dazu entschlossen, auszuwandern."
"Ja, ich wollte einiges verändern, weil mehr in mir steckt als Beute zu machen und für Nachwuchs zu sorgen."
"Was haben denn Leute wie Ihre Mutter zu ihrem Fortgang gesagt?"
"Meine Mutter hat mich - wie es bei uns üblich ist - nach etwas über einem Jahr verjagt. Ich denke nicht, daß sie über meinen Schritt bescheid weiß. Vielleicht ist sie auch schon tot."
"Wie leben Sie heute?"
"Ich wohne in einem Zweizimmer-Apartement in Citynähe. Ich schreibe und gehe hin und wieder auf Vernissagen und ins Kino, um mich von mir selbst abzulenken."
"Ein großes Verlagshaus hat sich Ihrer Gedichte angenommen."
"Ja, ein fantastischer Deal. Nächste Woche erscheint mein erster Gedichtband, den ich bereits in Kenia geschrieben habe. Und Anfang nächsten Jahres wird dann das zweite Buch herauskommen."
"Mit Eindrücken aus der Zivilisation?"
"Mit Ausdrücken aus der Zivilisation."
"Wie sehen Ihre privaten Pläne aus? Bleiben Sie noch lange hier?"
"Darauf kann ich im Moment noch keine befriedigende Antwort geben. Das gesellschaftliche Leben hier beeindruckt und fasziniert mich nicht besonders."
"Würden Sie es mit den Gesetzen der Steppe und des Dschungels vergleichen können, ich meine rein allegorisch."
"Darauf möchte ich mich nicht einlassen. Es gibt hier zuviele fragwürdige Werte, die ich erst noch genauer untersuchen muß."
"Sie meinen die Gesetze der Ellenbogengesellschaft? Den Materialismus und die Konsumsucht?"
"Nein, mit diesen Dingen habe ich keine Probleme. Ich bin ein Genuß-Wesen. Nein, ich meine die Moral. Nach meiner Ansicht kann Moral nur eine Illusion sein, etwas zutiefst menschliches, das in der Natur keinen Platz hat."
"Ja, es wird einem ständig gepredigt, man solle sich moralisch verhalten, und doch tut es keiner."
"Das meine ich nicht, denn das ist selbstverständlich. Auch bei uns in Kenia wird mit Tarnung gearbeitet. Ich meine die Moral an sich. Nehmen Sie zum Beispiel die soziale Strategie in einem Löwenrudel. Wenn dort ein Mitglied verletzt wird und nur noch humpeln kann, wird es von den anderen Mitgliedern noch zusätzlich gebissen und gestoßen, selbst wenn es sich um ein schutzbedürftiges Junges handelt. Das ist für Menschen eine Rohheit, und sie sind versucht, es für unmoralisch oder zumindest primitiv zu erklären. Doch diese Verfahrensweise ist unbedingt nötig für das Rudel. Es kann sich nicht wegen einem einzigen Verletzten Risiken aussetzen, es muß weiter, nach Beute und nach Wasser suchen, um zu überleben. Der Verletzte wird deshalb schikaniert, um ihn zu animieren, den Anschluß nicht zu verlieren, oder zu testen, ob er es schaffen kann. Das ist ein völlig ökonomischer Modus Operandi."
"Und die Leoparden-Mütter vertreiben ihre Jungen, wenn sie alt genug sind, um ein eigenes Leben zu führen."
"Ja, das hat fast schon Ähnlichkeit mit menschlichem Verfahren."
"Haben Sie hier schon Freunde gefunden?"
"Ich habe Menschen kennengelernt, die mir nützen können. Natürlich schließe ich auch wirkliche Freundschaften nicht aus."
"Und wie steht es mit Frauen?"
"Kein Interesse."
"Aber Sie haben doch bestimmt schon viele Angebote bekommen."
"Ich glaube, das geht nur mich und die Antragstellerinnen etwas an."
"Wie werden Sie eigentlich in Erscheinung treten? Mit anderen Worten: was für ein Name wird auf Ihrem Gedichtband stehen?"
"Der Jaguar. Nein, im Ernst: Ich habe zuerst mit der Idee gespielt, mir den Namen Leo Pardy zu geben, aber das fand ich letztlich anbiedernd. Einfach nur Leopard wäre da noch gradliniger gewesen. Ich entschied mich dann für Joe Datzo."
"Eine seltsame Wahl."
"Genau diese Reaktion erwarte ich. Ein Name, der bei einem Wesen wie mir sofort die Frage nach dem Warum auslöst. Warum gerade dieser Name? Darum. Mehr steckt nicht dahinter, und das soll es auch nicht. Ich mag keine Namen, hinter denen eine Bedeutung steckt, denn das würde die Person zu dieser Bedeutung reduzieren. Wenn sich jemand King nennt, ist das nur der Ausdruck eines Größenwahns oder einer Eitelkeit. Über den Träger des Namens sagt es nichts aus, was darüber hinausgeht."
"Also darf man Sie zukünftig mit Herr oder Mister Datzo anreden?"
"Wenn es im Paß vermerkt ist, auf jeden Fall. Aber Sie können ja schon mal üben."
"Mister Datzo, wo liegt das Konzept in Ihrer Dichtung?"
"In der konkreten Anwendung von ungefiltertem Intellekt. Wenn Intellekt ungefiltert ist, sieht er aus wie etwas sehr Fremdes, Unnahbares. Ich nenne es Instinktiver Intellekt. Und am Beginn dieses Impulses stand der Rhythmus: Substantiv, Ich, Adjektiv, Substantiv, Verb. Es gibt einige andere Rhythmen, aber dieser ist der des Ursprungs."
"Bei Ihnen gibt es die Zeile: 'rot werdend das Wanderherz'. Ein Verweis auf Blut, Suche und Jagd nach Beute?"
"Kein Verweis. Es gibt keine Verweise. Alle Zeilen sind konkret und kristallen zugleich. Der Verweis entsteht im Kopf des Lesers, nicht in meinem. Ich bringe glasklare Dinge zum Ausdruck. Ich verfolge die Idee des ursprünglich Perfekten, des Objekts, das keiner Entwicklung bedarf."
"Wie soll man mit dieser Dichtkunst umgehen?"
"So, als wenn Sie einen Stein in der Hand haben. Sie heben ihn auf, sehen ihn an, betasten seine Oberfläche, und dann nehmen Sie ihn vielleicht mit, wenn er Ihnen gut gefällt."
"Mit Steinen kann man auch werfen."
"Dann tun Sie's."
"Vermissen Sie die Steppe?"
"Es gibt dieses Gefühl, ja. Und ich habe es erwartet. Sogar geplant."
"Wovon träumen Sie nachts?"
"Von Sättigung. Und ich träume vom Schlaf. Ich träume von Dingen, die so befriedigend sind, weil sie nie von Dauer sein können. Deshalb sind es kostbare Dinge."
"Sind Sie religiös?"
"Nicht in einem Sinne der bekannten Religionen. Eigentlich ist es eine Religion der Selbstverständlichkeit. Aber ich glaube in keinster Weise an einen personifizierten Gott. Es sind mehr die Gesetze der Welt, die ich verehre. Übrigens wäre es mir lieb, wenn Sie nicht rauchen."
"Oh, Entschuldigung."
"Danke für Ihr Verständnis, aber ich kann manchmal sehr wütend werden, wenn man in meiner Gegenwart raucht."
"Ich verstehe."
"Sehr wütend."
"Apropos: ich muß nochmal auf das Leben hier zurückkommen. Wie empfinden Sie die relative Einfachheit des Lebens im Verhältnis zu den Bedingungen in ihrer Heimat? Genießen Sie es beispielsweise, sich Ihr Fleisch bequem beim Metzger kaufen zu können?"
"Natürlich. Man muß sich schon ziemlich beherrschen, um nicht der Dekadenz zu verfallen. Deshalb gehe ich einmal pro Woche auf den Sportplatz und trainiere."
"Haben Sie da jemanden, der Sie betreut?"
"Nein, es ist eher umgekehrt. Manche Sportler - darunter beachtliche Olimpia-Anwärter - kommen zu mir und fragen mich um Rat. Das Leben mag in Hinsicht der Nahrungsbeschaffung einfacher sein, aber dafür gibt es andere komplizierte Vorgänge, die erst verstanden werden müssen. Verhaltensregeln, Etikette und dergleichen."
"Und die Klassentrennung."
"Nein, mit Klassentrennung bin ich vertraut. Und ich bin sehr froh darüber, daß man mir nicht abverlangt, mich an Kleiderordnungen zu halten. Ich möchte nicht leugnen, daß ich aufgrund meiner Spezies von gewissen Pflichten entbunden bin. Ich spare sehr viel Zeit, denn ich brauche mich vor einem Opernbesuch nicht in Schale werfen."
"In die Oper gehen Sie auch?"
"Ich liebe sie. Besonders Wagner und die italienische Oper."
"Wie steht es ansonsten mit Musik? Können Sie mit der modernen Popmusik etwas anfangen?"
"Ich verschließe mich dem nicht. Man könnte meinen, daß ich als Räuber auf harte Musik geeicht bin. Das ist ein Irrtum. Ich assoziiere mit harter Musik nichts, was mit meinem Leben in Kenia zu tun hat. Zur Entspannung und bei Konzentrationsübungen höre ich sehr gerne die modernen Minimalisten wie Reich, Glass oder Mertens. Und Bach."
"Lesen Sie Bücher?"
"Auch, aber dazu bleibt mir nur wenig Zeit. In Kenia habe ich Beaudelaire gelesen. Der hat mir nicht so gut gefallen. Aber Dostojewski halte ich für sehr interessant, wenn man begreifen will, wie der Mensch funktioniert. Das gleiche gilt für Shakespeare. Doch das Lesen wird erst dann ein Genuß für mich, wenn ich nicht über die Inhalte nachdenken brauche. Viele Künstler behaupten, sie würden den Rezipienten zum Nachdenken anregen wollen. Abgesehen davon, daß ich darin eine Schutzbehauptung vermute, ist es für mich völlig zweitrangig, jemanden zu einer intellektuellen Leistung zu nötigen. Das Gefühl kann erzwungen werden, aber nicht ein Gedankengang, der sich wiederum auf Moral gründet. Und man sieht doch angesichts der vielen miß- oder nichtverstandenen Kunstwerke, wie wenig die Leute trotz der gut gemeinten Anregung darüber nachdenken. Wenn dies anders wäre, hätte ja schon ein einziger Antikriegsfilm gereicht, um der Welt Frieden zu schenken."
"Verzeihen Sie, wenn ich sie unterbreche, aber ich glaube, das Problem bei der Sache stellt sich doch etwas komplexer dar."
"Nein, tut es nicht. Es ist so wie es ist. Wenn Sie es komplizieren wollen, bauen Sie nur wieder ein neues Labyrinth, in dem Sie sich verirren und kopfschüttelnd resignieren."
"Ich möchte hier keine Diskussion vom Zaun brechen, aber es hat durchaus Werke in der Geschichte gegeben, die etwas bewirkt haben."
"Nein, nicht wirklich. Vielleicht kann ein Werk einzelne Menschen prägen und beeinflussen. Aber den Schauplatz der Kunst verläßt diese Wirkung nicht."
"Hm, ich bin genötigt, etwas inoffiziell zu sagen, außerhalb des Interviews."
"Nur zu."
"Sie sind ein Leopard. Vielleicht leben Sie noch nicht lange genug unter uns, um das ganze menschliche Spektrum zu erfassen."
"Das mag sein, aber die Menschen tun es auch nicht. Ich äußere lediglich als Beobachter meine Feststellungen."
"Gut, fahren wir mit dem Interview fort."
"Sie müssen gleich gehen, ich erwarte um drei noch einen anderen Journalisten."
"Alles klar, wir sind auch gleich fertig. Mister Datzo, sind Sie glücklich?"
"Ein Begriff ähnlich überflüssig wie Moral. Wenn Sie mir so eine seltsame Frage stellen, fühle ich mich wie ein Schachspieler, der auf ein Fullhouse reagieren soll. Es ist nicht mein Spiel, und es sind nicht die richtigen Begriffe, um das Leben abzustecken. Ich kann Ihnen auf diese Frage keine Antwort geben."
"Aber Sie können doch zumindest andeuten, ob Sie sich zur Zeit wohl fühlen oder nicht."
"Es geht mir gut. Danke der Nachfrage."
"Mister Datzo, ich danke Ihnen für das Gespräch, und viel Glück für Ihre erste große Buchveröffentlichung."
"Kann ich brauchen. Einen schönen Tag noch."

Der Journalist verließ das Hotelzimmer, und nach zehn Minuten klopfte es erneut. Ein weiterer Journalist wurde hereingebeten, und er betrat mit einer frisch angezündeten Marlboro das Zimmer des Autors.


Nächsten Freitag: "Joe und Luis"



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen