Mittwoch, 30. April 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen TEIL I


Nach einer Idee von Daniela Noitz und Guido Ahner

Diese Geschichte war eigentlich ohne beabsichtigte Botschaft verfasst worden, doch im Nachhinein könnte es eine Ode an die Einsamkeit sein, die einem hilft, wenn man einer Bedrohung entkommen ist und froh sein kann, sich in sein eigenes Sein zu kuscheln. Oder die einen im Schmerz der Trennung als einziger aufrichtiger Lebensraum bleibt. Manchmal verschwinden Bedrohungen einfach, und manchmal geht die Zweisamkeit einfach fort, ohne schlüssigen Grund und ohne darauf Rücksicht zu nehmen, wie sehr sie einen ausgefüllt hat.


TEIL I

Sie saß am Ende des Stegs, der in den weiten See hinein ragte.
Der Nachmittag kippte langsam über in den Abend, und je länger sie saß, desto enger schienen der See und der Himmel sich um ihr Bewusstsein zu schließen, fast wie eine Umarmung, doch ihre Ratio wirkte dem entgegen, rieb sich an der Intensität, ohne sie ganz zu assimilieren. So funktionierte es, so war es gut.
Bevor die Dunkelheit gänzlich die Macht übernahm, erkannte sie auf dem See, zwischen Nebel, Wald, Wasserkräuseln und Dunkelheit, ein kleines Boot, das schnurstracks auf ihren Steg zuhielt.
Tavie beobachtete es verwundert.
Ein Mann saß darin. Sie konnte zunächst nicht erkennen, ob er sie schon bemerkt hatte, hörte jedoch seinen schweren Atem, der in Erschöpfung vom anstrengenden Rudern durch die Luft stieß wie ein träger Hammer.
Tavie erhob sich. Es machte den Anschein, als wollte der Mann am Steg anlegen.
Sie hatte schon sehr lange keinen anderen Menschen mehr gesehen.
Tavie machte sich bereit ihm zu helfen, das Boot zu verlassen, und als er nah genug war, schaute sie in seine Augen. Angst las sie darin, aber auch Erleichterung.
„Gib mir Deine Hand“ sagte sie und wollte vertraut klingen.
Das Boot wackelte bedenklich, als der Mann aufstand und nach Tavies ausgestrecktem Arm tastete.
„Komm, einmal mit Schwung!“ rief sie, und der Mann kam dem nach. Er wuchtete sich mit Tavies Hilfe auf den Steg. Natürlich stolperte er und fiel auf die Knie.
„Jetzt hast Du es geschafft.“ sagte Tavie. Der Mann sah ihr in die Augen und wunderte sich über ihren kameradschaftlichen Tonfall, viel zu vertraulich klingend für eine fremde Person. Er fand, dass sie gut aussah, zwar nicht mehr 20 und etwas blässlich, aber durchaus ansehnlich. Lennox mochte eigentlich Blondinen lieber, doch das lange schwarze Haar besaß durchaus seinen Reiz.
Es erinnerte ihn sofort an das Unerschlossene, vielleicht sogar an das Diabolische.
Er warf einen Blick den See hinunter. Er versuchte zu schätzen, wie lange er auf dem verdammten Wasser unterwegs gewesen war, doch es schien in diesem Moment an Bedeutung zu verlieren.
„Bitte nehmen Sie meine Kapitulation entgegen.“ sagte er. Seine Hand tauchte in die Innentasche seiner dunklen Jacke und brachte eine Pistole zutage.
Tavie erschrak. Doch der Mann hielt ihr die Pistole mit dem Griff voraus entgegen.
„Ich ergebe mich.“ sagte er.
Tavie tat einen Schritt zurück, weil sie die Pistole nicht mochte.
„Vor mir ergibst Du Dich?“ fragte sie.
„Vor allem und jedem. Ich bin müde. Ich möchte nicht mehr fliehen.“
„Du warst auf der Flucht?“
Lennox nickte und hielt ihr noch nachdrücklicher die Pistole entgegen. Tavie fasste das Ding mit zwei Fingern, holte aus und warf es in den See. Lennox schien verblüfft.
„Wenn Du sowieso aufgegeben hast, dann brauche ich Deine Waffe nicht.“ sagte sie.
„Sind Sie sicher, dass das klug war? Ich gelte als gefährlich und unberechenbar ...“
„Es scheint vielleicht nicht danach auszusehen, weil ich hier ganz allein am See lebe, aber ich mag Überraschungen, und Unberechenbarkeit ist mir nicht fremd. Ist Dir kalt?“
„Ja, sehr. Der Wind, das kalte Wasser … Und ich habe nichts gegessen.“
„Dann komm mit in mein Haus, ich mache uns eine Suppe.“
Lennox zögerte, weil er auf eine solche Einladung nicht vorbereitet war. Er dachte, man würde ihn gleich hier verhaften, fesseln und mit viel Getöse wegfahren.
„Nun komm schon, ich beiße nicht.“ sagte Tavie und ging voran.
Lennox erhob sich und sah, wie die Frau entspannten Schrittes den Steg hinab zum Ufer wanderte. Ein letztes Mal sah er sich nach allen Seiten um. Das kleine einstöckige Holzhäuschen lag fast direkt am Ufer, daneben ein kleiner Gemüsegarten. Eine kleine Wiese erstreckte sich bis zu einem Hügel, der die Sicht auf das Dahinterliegende versperrte. Drum herum war überall Wald.
Lennox folgte Tavie den Steg hinunter.
Tavie öffnete die klobige Tür zu ihrem Haus und trat ein. Lennox hatte mit vielem gerechnet, mit sehr viel Aufsehen um seine Person, mit Zorn und Feindseligkeit, aber nicht damit.
Schüchtern betrat er das kleine Häuschen.
Im Innern brannte ein Feuer im Kamin. Tavie war bereits dabei, die bereits angerichtete Suppe auf den Herd zu stellen und ein Brot aufzuwärmen. Sie besaß eine niedliche Küchenecke mit allerlei Kräutern in Wandregalen. Lennox fiel ein großer Schreibtisch auf, eine gemütliche Sitzecke mit Sofa und Sessel, und weiter hinten, in einem niedrigen, höhlenartigen Bereich, das Bett.
In der Küchenecke stand ein kleiner Tisch und zwei Stühle. In dem Raum lag ein dicker Teppich, der dringend gereinigt werden musste, und die Wände waren voller Bilder, Fotos aus allen Ländern.
Und es gab diesen Kamin. Lennox mochte Kamine.
„Du kannst ruhig den Sessel zum Feuer schieben und Dich dort aufwärmen. Wenn Du frische Sachen brauchst, ich hätte noch einen schönen dicken Schafswollpullover.“
„Das wird nicht nötig sein, danke ...“
Er schob den alten Sessel, der viel schwerer war als er gedacht hatte, herüber zum Kamin und setzte sich hinein. Er seufzte vor Wohlbefinden. Das Feuer war sehr warm, und seine Haut begann zu kribbeln.
„Geduldige Dich noch ein paar Minuten. Möchtest Du vielleicht einen Whisky?“
„Das ist sehr aufmerksam. Einen kleinen Schluck könnte ich vertragen.“
Tavie öffnete einen der Schränke und holte eine Flasche Scotch heraus.
„Sag, wie heißt Du? Und wieso bist Du auf der Flucht?“
„Mein Name ist Lennox. Ich werde gesucht. Die Polizei ist hinter mir her.“
„Ach wirklich? Hast Du etwas ausgefressen?“
„Das kann ich nicht verneinen.“
„Das kannst Du nicht verneinen?“ fragte Tavie, weil sie den Ton dieser Aussage putzig fand. Sie ging zu Lennox und gab ihm ein kleines Glas mit Scotch.
„Danke schön ...“
„Also verneinen kannst Du es nicht, hm? Magst Du mir erzählen, weswegen Du gesucht wirst?“
„Es ist mir etwas peinlich.“

Nächster Teil Freitag, 09.05.2014

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