Joe
und Luis (auf Domitians altem Sportplatz)
Unter
den Flügeln von Luis gähnte die Piazza Navona, das einstige Stadion
des Kaisers Domitian, an einem wunderschönen Herbsttag, und es fiel
ihm nicht schwer, den Leib der einzigen gefleckten Großkatze auf dem
Steinboden auszumachen. Hier in der ewigen Stadt hatte man sich schon
an Joe gewöhnt, aber dennoch machten die meisten Menschen einen
Bogen um ihn.
Die
Römer betrachteten Luis nicht gerade als Segen für ihre Stadt,
wurde sie doch jedes Jahr von Millionen von Staren heimgesucht, die
die Straßen mit ihren Exkrementen verunreinigten.
Doch
Luis war ein Rabe, Wotansvogel, Abkömmling der Bruderschaft des
Towers und so stadtrein wie gewisse Haustiere stubenrein waren.
Luis
landete nahe des Brunnens, nippte ein wenig Nass in seinen Schnabel
und gab Joe die Gelegenheit, von ihm Notiz zu nehmen.
Der
Leopard streckte seinen Leib und näherte sich. Er sprach:
„Luis
Rostrumus Corvinus ... Kannst du auch Nichtlateiner damit
langweilen?“
„Ich
habe mir, erdverbundener Wandersmann, diesen Namen nicht ausgesucht.
Er entstammt unserem alten Geschlecht, das einst von den Vätern und
Söhnen der Antike verehrt wurde, bevor die Dunkelheit des
Mittelalters aus uns Geschöpfe des Bösen gemacht hat.“
„Rostrumus
– Schnabel. Corvinus – Rabe. Und wer gab dir den Namen Luis?“
„Meine
Mutter, die sich gerne im Freilichtkino aufhielt und Filme von Luis
Bunuel bewunderte.“
„Ich
habe deine neue Kritik der Zeitgenössischen Gesellschaft gelesen.
Ihr Vögel lasst doch keine Gelegenheit aus, uns flügellosen Wesen
mitzuteilen, dass ihr über den Dingen steht.“
„Da
unsere Vorfahren, die Dinosaurier, einst von einem Meteoriten
vernichtet wurden, haben wir mit unserer evolutionären Intelligenz
und Voraussicht beschlossen, uns Flügel wachsen zu lassen, damit uns
so etwas nie wieder passiert. Seitdem erlauben wir uns eine gewisse
Arroganz.“
„Die
in jeder Faser deines Gefieders geschrieben steht.“
„Soll
ich dafür um Verzeihung bitten?“
„Verzeihungen
interessieren mich nicht.“
Einige
Touristen näherten sich auf ein paar Meter und schossen Fotos von
dem Raben und dem Leopard. Ein kleiner Deutscher filmte die Beiden
und versuchte eine Ballhaussche Kreisfahrt mit seiner Digicam. Luis
und Joe ignorierten es, wie immer.
Luis
beobachtete Joe, wie er in die Sonne blinzelte. Er ist ihm zuvor nur
einmal begegnet, vor ein paar Jahren in Paris.
„Du
bist alt geworden“ sagte Luis vorsichtig.
„Ich
bin eine Katze. Wir werden nicht alt. Wir sind die James Deans unter
den Carnivoren. Ich weiß, ich habe nicht mehr lange. Es ist der
Zeitpunkt gekommen, an dem ich mich frage, ob es noch Fragen gibt.
Ich meine diese Art von Fragen, die sich Opfer und Beutetiere
manchmal stellen, bevor wir sie töten. Fragen, die sich ein junger
Student stellt, weil er ‚Der Fänger im Roggen’ nicht verstanden
hat.“
„Fragen,
die in der Logik deines vierpfötigen Horizonts ein Rabe beantworten
könnte?“
„Anders
als die Menschen benutzt du deine Beine, um herabzusteigen.
Die Menschen benutzen sie, um sich zu erheben. Etwas muss an
eurer Weisheit ja dran sein. Ich meine, verdammte Scheiße und
tausend Gazellenärsche auf meiner Tafel, du Arschloch, irgendwas
müsst ihr doch besser wissen als wir säugende und nagende
Placentisten.“
„Ist
dir schon einmal in den Sinn gekommen, dass wir es leid sind,
andauernd für Metaphern der Jungmädchenpoesie herhalten zu müssen?
- Der Vogel, das Himmelswesen, das Ei- oh Götter, wie leid bin ich
diese ermüdenden Ei-Metaphern.“
„Davon
spreche ich nicht. Ich meine das Wissen, das jenseits der
Lebensspanne wohnt. Davor und danach. Mich interessiert, ob es ein
Bewusstsein gibt, das sich zu Lebzeiten verborgen hält und uns nach
dem Tod wieder zugänglich wird.“
„Wenn
du nach so etwas fragst, müsstest du eigentlich mit dem Schreiben
aufhören und anfangen, nach Perlen zu tauchen. Oder was anderes, bei
dem man sich vorkommt, als überschreite man eine Grenze.“
„Ich
hab ja gedacht, ich hätte das mit meiner Übersiedlung zu den
Menschen schon abgedeckt.“
„Das
denkt man immer, bis man das erste Mal Musik von Meat Loaf gehört
hat.“
„Schlange
müsste man sein. Die sind taub.“
„Ja,
das wollen sie uns zumindest weismachen.“
„Hast
du schon gegessen?“
„Ein
bisschen.“
„Hier
gibt’s gute Pasta um die Ecke.“
„Warum
wundert mich das nicht, wo wir doch in Rom sind. Was hat dich
eigentlich hierher geführt?“
„Ich
wollte nur mal sehen, wo meine Ahnen damals abgeschlachtet wurden.“
„Kennst
du die Geschichte, nach der sich ein Löwe mit einem verurteilten
Sklaven angefreundet hat?“
„Komisch,
wieso das ausgerechnet mit einem Löwen passiert ist und nicht mit
einem Nashorn.“
„Das
sollte dir beweisen, dass von Menschen keine Antworten zu erwarten
sind.“
„Also
Perlentauchen.“
„Das
war ein Scherz, Joe.“
„Das
weiß ich doch, mein Spatz.“
„Also
was ist der wahre Grund für unser Treffen?“
„Das
kannst du dir nicht denken?“
„Nein,
Joe. Vielleicht eine Diskussion über Poesie? Über Neros Wahn?“
„Knapp,
mein Lieber.“
Joe
drehte seinen Leib nur leicht, verschleierte einen Sekundenbruchteil
lang die schwungvolle Ausholbewegung seines Vorderbeins, bevor seine
Pranke mit einem blitzartigen Schaufelschlag den Raben attackierte.
Beinah wäre es um ihn geschehen, doch Luis reagierte schnell genug,
spürte den Wind von Joes ausgefahrenen Krallen an seinem Gefieder
und schnellte in die Luft empor.
„Knapp!
Ja, das war knapp, Joe di Joe. Joe di Pasta, Joe
il Gattopardo.“
„Scheiße,
ich musste es einfach versuchen.“ Joe schüttelte den Kopf und
beobachtete, wie Luis mit seinen schwarzen Flügeln über ihn
flatterte. Die Menschen knipsten wild drauf los. Ein Polizist näherte
sich.
„Joe,
du bist ein Narr. Mich wolltest du fressen? Mich? Das
ist eine unfassbare Beleidigung.“
„Wie
kann ich denn anders als durch eine Verköstigung deiner Spezies an
Antworten gelangen?
„Das
ist der älteste Irrglaube der Fressensgeschichte. Verdammter
Dichter. Hast du dich nie mit den Wissenschaften beschäftigt?“
„Nur
in Zwischentönen. Zwischen zwei Strohhalmen, die in einer blutigen
Maria steckten. Ich habe die Wissenschaft immer als große Ablenkung
wahrgenommen.“
„In
Ablenkung bist du doch ein Experte.“
„Ja,
geschenkt. Nun komm wieder runter, ich verrenke mir den Hals.“
„Nein,
du wirst es wieder versuchen.“
„Ja,
du denkst an die Geschichte mit dem Fuchs und dem Skorpion. Aber
sorge dich nicht, Corvinus, ich werde dir nichts tun.“
Der
Rabe Luis senkte sich auf den Brunnenrand hinab. Joe sah in seinen
Augen keinerlei Zorn, nur glänzende Schwärze und die gnadenlose,
starre Fratze des Pragmatismus. Joe wusste, dass Typen wie Luis
niemals Dichter sein konnten. Vielleicht wurden sie deshalb so alt.
„Was
planst du als nächstes?“ fragte Joe, womit er wieder ablenkte,
aber nun von seiner eigenen furchtbaren Einsamkeit.
„Ich
würde gerne mal auf diese Raumstation.“
„Noch
höher hinaus? Noch weiter weg von uns Staubschluckern?“
„Mich
interessiert, wie sich meine Flügel anfühlen, wenn ich sie nicht
mehr brauche in der Schwerelosigkeit.“
„Wäre
vielleicht von größerem pädagogischen Wert, mal ein paar Wochen
auf das Fliegen zu verzichten.“
Luis
legte den Kopf schräg. Joe hatte einen wunden Punkt getroffen. Der
Vogel sagte:
„Ich
begab mich einst in den Dienst eine Frau, die mich ein Jahr lang in
einem Käfig gehalten hat. Ich weiß also wie es ist, sich nicht
bewegen zu können. Und dabei habe ich nur gelernt, dass es besser
ist, mobil zu sein.“
„Bist
du ausgebrochen?“
„Der
Typ, mit dem sie ab und zu gevögelt hat, war ein wenig labil. Ich
habe so lange auf ihn eingeredet, bis er mich freigelassen hat. Er
war derart motiviert, dass die Frau dran glauben musste. Das war
unnötig, aber, na ja ... Menschen halt.“
„Ich
bin da besser dran. Die Menschen ängstigen sich vor mir. Und der
Respekt, den ich mir erarbeitet habe, schützt mich davor, irgendwie
bevormundet zu werden. Man nimmt mich ernst.“
„Siehst
du, das hast du mir voraus. Nur wenige Menschen können mich leiden.
Vielleicht bewundern sie mich, aber sie sind zerfressen von
widerlichem Neid. Ich muss sehr vorsichtig sein.“
„Jetzt
weiß ich, dass du keine Antworten hast.“
Luis
blickte zu Borden. Der Leopard hatte Recht. Vielleicht, so dachte er,
sollte man nicht nach Antworten suchen. Man sollte erst gar nicht
fragen. Wie es Picasso gesagt hat: Nicht suchen, sondern einfach
finden. Luis fragte:
„Gehst
du bald zurück nach Afrika?“
„Nein,
ich möchte unter den Blitzlichtern des Ruhmes der Menschen sterben,
mit einer eleganten, schmuckbehangenen, Lyrik-verliebten Dame, die
mir Filetstücke ins Maul schiebt und für mich die Fernbedienung
bedient.
„Ich
werde etwas über dich schreiben, Joe. Du bist das tragische Element
eines Lebensmodells, das eigentlich jede Tragik ausklammert. Das
Sauerstoffmolekül in einem Vakuum, das gerne geatmet werden möchte.“
„Darüber
muss ich sehr lange schlafen. Hast du nicht doch noch Lust, ein wenig
zu schlemmen?“
„Nicht
in deiner Gesellschaft und sicher keine Pasta, Pussykätzchen.“
„Okay,
dann geh halt vögeln, du Vogel.“
Joe
drehte sich um und trabte in westlicher Richtung davon. Luis sah ihm
nach. Die Menschen folgten ihm. Auch Kinder. Luis wurde kaum
beachtet. Joe drehte sich noch einmal um und rief:
„Hey
Mann, wusstest du, dass Joe Louis gestorben ist?“
„Joe
Louis? Der ist doch schon ewig tot. Du meinst wohl Joe Frazier.“
„Ja,
du hast Recht.“
„Der
taucht doch kurz in einem Rocky-Film auf. Zuerst dachte ich, der wäre
gar nicht real. Aber den gab es wirklich.“
„Ja,
Piepmatz. Genau wie dich und mich.“
Nächsten Freitag: "Lusias Praxis"
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen