Freitag, 30. Mai 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen – Teil V




Als der erste Schnee fiel, richtete sich Tavie einen kleinen Verschlag ein, um Wildfleisch aufzuhängen. Darunter Hase, Eichhörnchen und sogar Reh. Tavie schaute mittlerweile an einem Abend pro Woche Fernsehen und benutzte es, um ihr geistiges Spektrum an dem der Außenwelt zu messen. Zufrieden stellte sie Woche für Woche fest, dass sie sich genau in einer richtigen Balance zu ihrer Mitte befand, sich nun jedoch erlaubte, mal einen Tag traurig oder verstimmt zu sein. Es kam auch vor, dass sie an einem Tag das Bett überhaupt nicht verließ oder sich betrank. Die meiste Zeit jedoch schrieb sie, erfand Geschichten von Tieren und manchmal auch von Fabelwesen, die sowohl grimmig und hinterlistig, als auch liebebedürftig und weise sein konnten. Die Reibung der Figuren in ihren Geschichten hielten ihren Geist und ihre Leidenschaft wach, und man könnte sagen, dass sie mit einer neuen Art inneren Kampfes einen besseren Umgang mit bisher verdrängten Teilen ihrer Persönlichkeit lernte.
Sie fegte den Schnee vom Steg, setzte sich nieder, ganz nach vorne, und ließ ihre Beine herunter baumeln. Der Himmel war grauweiß, die Baumwipfel bestäubt von Schnee, und der See dunkel.
Zum ersten Mal, seit sie hier wohnte, dachte sie über Weihnachten nach und was es als Kind für sie bedeutet hatte. Geschenke über Geschenke, Gebäck und Lieder, und überall die warmen Lichter und das seltene Erlebnis, dass alle nett zueinander waren.
In der Ferne, irgendwo zwischen der Schnittstelle zwischen See und Himmel, kam ein Boot geschwommen. Sofort stand Tavie auf beiden Beinen und schärfte ihren Blick.
Der Boot schien nur zu treiben. Und die Person, die sich darin befand, regte sich nicht. Tavie wurde von einer starken Aufregung erfasst. Dazu kam ein wenig Sorge, und auch ihre Neugier.
Der See trieb das Boot zum Steg. Ganz langsam.
Der Mann lag wie ein Kind darin, wie Moses im Binsenkörbchen, und er war nicht bei Bewusstsein.
Tavie konnte es nicht abwarten, ihn genauer zu betrachten. Seine Kleidung schimmerte weiß vom letzten Schneefall.
Tavie nahm eine lange Stange, die auf dem Steg lag, und versuchte damit, das Boot heran zu holen.
Als sie es zu fassen bekam, versuchte sie, es mit der Stange notdürftig zu fixieren.
Plötzlich wachte der Mann auf und hob den Kopf. Er sah aus wie Lennox, wie der eine und wie der andere.
„Wo bin ich?“ fragte er.
„Bei mir.“ Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er bewaffnet war, doch sie ließ es bleiben.
„Komm, ich helfe Dir aus dem Boot. Kannst Du aufstehen?“
„Moment, ja, ich denke schon. Ich bin verletzt. Am Bein. Aber es geht.“
Tavie nahm seine Hand, an der er sich auf den Steg zog. Es stimmte. Er konnte nur auf einem Bein stehen. Tavie konnte nicht anders und hakte sich bei ihm unter.
„Das ist aber sehr nett. Wo bin hier hin geraten? Mir scheint, ich habe die Grenze hinter mir gelassen.“
„Das stimmt.“
Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass es dieser Mann zunächst einmal nicht böse mit ihr meinte. Und er benötigte dringend Hilfe.
Als Tavie ihn im Haus in den Sessel gleiten ließ, fiel dem Mann eine Pistole aus der Jacke.
„Oh Schreck, bitte hab keine Angst, ich hatte nicht vor-“
Tavie unterbrach ihn:
„Gut, darf ich die Waffe an mich nehmen? Du willst mich doch sowieso nicht erschießen, oder?“
„Das hatte ich nicht vor. Gut, nimm sie an Dich, Es ist okay. Wie heißt Du?“
„Tavie.“
„Schöner Name.“
Tavie machte nicht den gleichen Fehler wie bei dem zweiten Lennox:
„Und wie heißt Du?“
„Lennox.“
Tavie tat überrascht und huschte in den Küchenbereich, um Wasser heiß zu machen.
Lennox hatte das Bedürfnis, sich zu erklären:
„Wegen der Waffe, also, ich bin ein wenig mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Bin angeschossen worden. Die Kugel ist glatt durchgegangen. Jetzt denkst Du sicher, ich sei ein Schwerverbrecher, aber ich bin nur ein blutiger Anfänger. Sag mal, Du lebst alleine hier?“
„Ja.“
„Das finde ich nett. Es ist schön hier. Und Du warst wohl schon an sehr vielen Orten auf der Welt, nach den Fotos an der Wand zu urteilen.“
„Woher willst Du wissen, dass die Fotos von mir sind?“
„Das ist nicht schwer zu erkennen. Sie haben so einen Ausdruck des Persönlichen.“
„Ich mache Dir einen Verband, aber erst möchte ich die Wunde reinigen.“
„Ich denke, ich werde es überleben.“
Tavie setzte sich vor ihm nieder und krempelte sein Hosenbein hoch.
„Aua!“
„Das hat schon weh getan? Hm, wir sind wohl ein wenig empfindlich, oder?“
„Das ganze Bein schmerzt. Ich kann nichts dafür.“
„Mit dem Gesetz in Konflikt und angeschossen. Wie viel Dummheit war dafür nötig?“
„Eine Menge. Dafür dass ich die letzten Jahre so klug gewesen bin, war das ein logischer Ausbruch an Dämlichkeit. Aber so plötzlich, so als wenn ich es mir nicht hätte aussuchen können. Mein Gott, ich dachte dieser See hört nie wieder auf. Aber er hat.“
Tavie schaute zu ihm auf:
„Jeder See endet. Sei froh, dass Du es geschafft hast.“
Lennox begriff erst jetzt, wie seltsam diese Situation war:
„Du benimmst Dich, als würdest Du jeden Tag Leute aus einem Boot auflesen.“
„Oh nein, nicht ganz jeden Tag.“ sagte sie und kicherte ein wenig. „Für Dich geht gerade alles sehr schnell, weil Du so lange herumgelegen hast, verwundet und unterkühlt.“
Tavie säuberte die Wunde mit einem Tuch. Lennox bemühte sich, nicht zu wehleidig zu sein, aber es schmerzte sehr.
„Tut mir Leid, wenn es Dir weh tut. Aber es geht nicht anders.“
„Kein Problem.“
Tavie war verblüfft, weil dieser Mann genauso aussah wie die beiden anderen, doch in seiner Art und in seiner Sprache sich von ihnen meilenweit unterschied. Es war ein auf den Kopf gestelltes Déja Vu. Sie sah den schwachen ersten Lennox in ihm, auch den feindseligen zweiten, aber dennoch sah sie nun einen neuen Mann, und dessen war sie sich sofort bewusst geworden, als sie ihn als den jetzigen und nicht als einen der anderen Lennoxe erkannt hatte.
„Wenn ich wieder laufen kann, werde ich sofort verschwinden.“
„Nicht so schnell. Vielleicht ist die Wunde infiziert. Und vielleicht muss ich Dir das Bein abnehmen.“
„Du willst mir nur Angst machen, hm?“
„Ja, ein wenig. Um Dich zur Vernunft zu bringen.“
„Ich fühle mich so komisch. Träume ich? Oder bin ich tatsächlich hier? Bist Du echt? Oder nur ein guter Geist?“
Tavie lächelte:
„Ich bin so echt wie ich heute morgen aufgewacht bin. So echt wie das Boot.“
„Aber nicht so unbequem. Willst Du gar nicht wissen, was ich angestellt habe?“
„Ich dränge Dich nicht. Bestimmt hast Du eine sehr spannende oder traurige Geschichte zu erzählen.Aber das ist jetzt nicht wichtig.“
„Das meinst Du ganz ehrlich, oder? Es ist Dir egal ...“
„Nun, einer erzählt etwas sehr Ergreifendes, damit man Mitleid mit ihm hat, ein anderer stilisiert sich zum Helden. Und Du bist vielleicht jemand, der es ganz nüchtern und selbstkritisch sieht. Das reicht mir für den Moment.“
Lennox wunderte sich über Tavies Ausführungen. Der Kamin flackerte und knisterte.
„Ich neige nun dazu“ sagte er, „einfach alles geschehen zu lassen. Das ist bestimmt nur ein schöner Traum, und jeden Augenblick wache ich auf und liege wieder im Boot …“
„Schsch ...“ machte Tavie, als sie ihm den Verband anlegte. Lennox gehorchte und sagte nichts mehr. Anschließend schob sie den zweiten Sessel so, dass Lennox seine Füße drauflegen konnte.
„Das ist so schön … Danke ...“
„Ich hole Dir noch eine Decke.“
„Kannst Du, aber im Moment geht es mir wunderbar.“
„Dann lasse ich Dich ein wenig ausruhen.“
„Warte mal. Jetzt mal ehrlich: Du bist wirklich echt, oder?“
„Die Schmerzen sollten Dich davon überzeugt haben.“
„Das stimmt …“
Tavie ließ ihn ein wenig dösen und machte sich in der Küche nützlich. Es war ein komisches Gefühl, ihn fragen zu hören, ob sie echt war. Denn eigentlich hätte sie ihn das ihrerseits immer wieder fragen sollen.
Obendrein bekam sie ein Gefühl, dass sie nicht nur bei den anderen nicht gehabt, was sie sogar mehrere Jahre nicht mehr erlebt hatte – Zuneigung.



Nächster Teil Freitag, 06.06.2014

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