Teil III
Nach
einer Idee von Daniela Noitz und Guido Ahner
Tavie entstieg ihrem
Bett in der höhlenartigen Nische. Sie warf sich einen leichten
Hausmantel über und ging zum Kamin. Die Glut glomm dahin, und Lennox
saß noch immer in dem Sessel, ganz eingesunken und genau in
derselben Haltung, in der sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.
Tavie fand das
seltsam. Sie betrachtete den Mann genauer. Seine Lider waren einen
kleinen Schlitz offen geblieben. Und seine Haut sah verdächtig blass
aus.
Sie legte eine Hand
an seine Halsschlagader. Lennox war tot. Tavie schlug die Hände vor
den Mund. Wie hatte das passieren können? Womöglich hatte er im
Schlaf einen Herzinfarkt gehabt.
So etwas konnte
passieren, gerade nach der Anstrengung und bei dem Ausnahmezustand
seiner Seele. Und vielleicht war er dafür veranlagt gewesen. Sie
kannte ihn nicht gut genug, um es beurteilen zu können.
Natürlich war es
einigermaßen traumatisch, eine Leiche im eigenen Haus zu haben, aber
Tavie zwang sich, nicht die Fassung zu verlieren und überlegte, was
zu tun war. Sie bedauerte es einerseits, den Mann nicht besser kennen
gelernt zu haben, doch andererseits hatte er ihr nichts bedeutet. In
ihren Augen war er einfach nur ein armer Mann gewesen, der mit dem
Leben nicht zurecht gekommen war. Sie war dankbar dafür, dass er
nicht gelitten hatte und in einem Zustand des Friedens und der Ruhe
gestorben war.
Sie legte ihre Hand
auf seine. Das hatte keine besondere Bedeutung, war nur eine kleine
Geste für sich selbst, als die Fürsorgende, als diejenige, die ihm
Zuflucht verschafft hatte.
Tavie zog sich
wetterfeste Kleidung an und holte eine Schubkarre und einen Spaten.
Sie war keine schwächliche Person, aber dennoch gestaltete es sich
als äußerst mühsam, Lennox' Körper so zu drapieren, dass er in
die Karre passte, Zum Glück war er nicht besonders groß oder dick.
Mit großer
Kraftanstrengung schob sie die Schubkarre mit der Leiche hinter den
Gemüsegarten, dort wo der Wald begann. Sie kannte eine kleine lichte
Stelle, an der sie die Karre abstellte und begann, ein Loch zu
graben. Die feuchte Luft machte die Erde locker, aber besonders tief
wurde die Grube nicht. Völlig verdreckt und ziemlich erschöpft
wuchtete sie den Körper in die seichte Vertiefung, schüttete sie
mit der Erde zu und trat sie platt.
Sie hatte nicht mal
in seinen Taschen nach einem Ausweis oder Hinweisen auf Angehörige
nachgeschaut. Sie fand es unwichtig, und nun, da er tot war,
betrachtete sie alles, was mit ihm zu tun hatte, als erledigt. Obwohl
es nicht leicht für sie war, diesen Mann, mit dem sie noch am
Vorabend gesprochen hatte, mit Erde zuzuschütten, besonders sein
trauriges Gesicht, geriet sie nicht aus der Fassung und betrachtete
die Sache als eines dieser unangenehmen Dinge, vor denen man sich
nicht drücken konnte.
Sie stellte keinen
Stein, geschweige denn ein Kreuz auf, um das Grab zu markieren. Sie
dachte sich, dass die Natur ihre Arbeit beginnen sollte und darüber
hinaus nichts von Bedeutung war.
Völlig erschöpft
stellte sich Tavie unter die Dusche hinter dem Haus.
Die Kälte machte
ihr in diesem Moment nichts aus. Sie wollte sich nur von dieser
schlimmen Angelegenheit reinigen.
Mit frischer
Kleidung igelte sich Tavie in ihr Haus ein, aß Käse und geröstetes
Brot, las ihr Buch und wartete darauf, dass der Tag vorüber ging und
sie wieder schlafen und genügend Abstand zu dem Geschehen gewinnen
konnte.
Tavie lebte weiter
wie bisher. Sie schrieb ein kleines Buch über einen Wolf und machte
eine Inventur der Vorräte, die sie nicht selbst herstellen konnte.
Vielleicht würde sie in einem knappen Jahr wieder in die Stadt gehen
müssen, aber sie lebte sparsam.
So gingen sechs
Monate ins Land, und nach einem überraschend milden Winter stand der
Frühling vor der Tür. Erste Knospen platzten auf, und das Licht
zeichnete die Welt mit schärferen Konturen, so als ob es prüfen
wollte, ob alles an seinem Platz war. Tavie hatte sich vor kurzem die
Haare geschnitten und trug sie nun so kurz, dass sie nur noch bis zu
ihren Ellenbogen reichten.
Wenn es draußen
angenehm war, saß sie am Steg und schaute auf das Wasser und in den
Himmel. Auch die Baumwipfel waren ihr so vertraut, dass sie all ihre
Bewegungen, die der Wind verursachte, voraussehen konnte, so wie bei
einem bekannten Lied. Kleine Windstöße waren die Strophe, und
stärkere der Refrain.
Wenn das Wetter es
nicht so gut meinte, saß sie nur auf dem Steg, wenn sie es dringend
brauchte, damit sie in ihr heimisches Jetzt versinken konnte. Das tat
sie auch bei starkem Regen und Schnee.
Heute spannte sich
ein einigermaßen milder Abend über den See. Die Sonne war noch
nicht ganz verschwunden, und man konnte ihr Licht deutlich auf den
Spitzen der Wipfel golden tanzen sehen.
Aus der Weite es
Sees näherte sich ein Boot.
Tavie sah zu, wie es
direkt auf den Steg zuhielt, und sie konnte deutlich erkennen, dass
ein Mann am Ruder saß, der keinerlei Anzeichen von Erschöpfung
zeigte.
Als das Boot nahe
genug war, um die Gesichtszüge des Mannes zu erkennen, stellte sie
fest, dass diese identisch waren mit denen des Mannes, dem sie vor
einem halben Jahr Unterschlupf gewährt hatte.
Als wenn er wieder
auferstanden wäre, ruderte Lennox auf den Steg zu.
Tavie staunte nicht
schlecht. Und sie wartete ab.
Der Mann erhob sich
und schaffte es, sich am Steg festzuhalten. Er hatte Tavie nicht
eines Blickes gewürdigt, und nun, da er im Begriff war, den Steg zu
besteigen, tat er es immer noch nicht.
Tavie fiel auf, dass
dieser Lennox entschlossener und kräftiger wirkte als der erste.
Schließlich, als
der zweite Lennox ihr gegenüber stand, fragte er:
„Sind Sie allein?“
„Oh ja, das bin
ich.“ Tavie antwortete ganz unvoreingenommen, vollkommen ehrlich.
„Gut“, sagte
Lennox und holte aus seiner Jacke eine Pistole heraus, die mit der
vom ersten Lennox
identisch zu sein
schien. Auch die Kleidung war die gleiche.
Lennox richtete die
Waffe auf Tavie:
„Sie gehen jetzt
mal schön voraus. Und keine plötzlichen Bewegungen, das mag ich
nicht.“
„In Ordnung“
sagte Tavie und behielt ihren gleichmütigen Ton bei. Sie ging voran,
und der zweite Lennox folgte ihr.
Sofort als beide
sich im Haus befanden, begann der Mann alles zu untersuchen, nach
Nebentüren, Waffen und Kommunikationsmöglichkeiten.
„Wo ist Ihr
Telefon?“ fragte er streng.
„Ich habe keins.“
Tavie stand einfach da und wartete, bis Lennox mit seiner Inspektion
fertig war. Er fand eine kleine Axt und diverse Messer in der Küche,
die er alle auf einen Haufen legte.
„Sie leben hier
ganz allein? Ohne Mann?“
„Wozu sollte ich
einen Mann brauchen?“
„Die Fragen stelle
ich, ist das klar? Es muss doch irgendwer hierher kommen. Irgendwann.
Sagen Sie mir die Wahrheit!“
„Nein, niemand
kommt hierher.“
Lennox sah sie
überaus misstrauisch an. Er öffnete einen der Küchenschränke,
fand eine Flasche mit selbstgemachtem Apfelmost und schüttete ihn in
sich hinein.
„Ich habe Hunger!“
sagte er barsch.
„Das kann ich mir
vorstellen. Ich habe noch ein halbes Kaninchen im Ofen. Ich kann es
aufwärmen. Und dazu kann ich Dir ein wenig Gemüse anbieten.“
„Haben Sie das
Kaninchen selbst gefangen?“
„Ja, das gelingt
mir manchmal.“
„Womit?“
„Ich habe ein paar
Fallen im Wald aufgestellt.“
Lennox begnügte
sich damit. Er fand auch eine Flasche Scotch, eine andere als vor
sechs Monaten, öffnete sie und nahm einen kleinen Schluck. Dann ging
er zu der Sitzgruppe, schob sich den Sessel zurecht, setzte sich und
atmete durch.
„Endlich sitzen!“
sagte er. Tavie warf den Ofen an. Sie spürte, dass sie Lennox nicht
aufregen durfte, also stellte sie ihm keine Fragen. Natürlich
wunderte sie sich, wie so etwas möglich sein konnte, dass ein
identischer Mann zwei Mal mit einem Boot von jenseits des Sees zu ihr
kam und bei ihr Schutz suchte, aber sie verordnete sich Muße und
vertraute darauf, dass sich eine Erklärung irgendwann von selbst
aufdrängen würde.
„Haben Sie Angst?“
fragte Lennox, und sein Ton verriet, dass ihn die Vorstellung einer
ängstlichen Tavie amüsierte..
„Ja, ein wenig
schon.“ gab Tavie zu.
„Das sollten Sie
auch. Wenn Sie schön brav bleiben und tun was ich sage, passiert
Ihnen vielleicht nichts.“
Nächster Teil Freitag, 23.05.2014
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