Donnerstag, 15. Mai 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen - Teil III


Teil III
Nach einer Idee von Daniela Noitz und Guido Ahner


Tavie entstieg ihrem Bett in der höhlenartigen Nische. Sie warf sich einen leichten Hausmantel über und ging zum Kamin. Die Glut glomm dahin, und Lennox saß noch immer in dem Sessel, ganz eingesunken und genau in derselben Haltung, in der sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.
Tavie fand das seltsam. Sie betrachtete den Mann genauer. Seine Lider waren einen kleinen Schlitz offen geblieben. Und seine Haut sah verdächtig blass aus.
Sie legte eine Hand an seine Halsschlagader. Lennox war tot. Tavie schlug die Hände vor den Mund. Wie hatte das passieren können? Womöglich hatte er im Schlaf einen Herzinfarkt gehabt.
So etwas konnte passieren, gerade nach der Anstrengung und bei dem Ausnahmezustand seiner Seele. Und vielleicht war er dafür veranlagt gewesen. Sie kannte ihn nicht gut genug, um es beurteilen zu können.
Natürlich war es einigermaßen traumatisch, eine Leiche im eigenen Haus zu haben, aber Tavie zwang sich, nicht die Fassung zu verlieren und überlegte, was zu tun war. Sie bedauerte es einerseits, den Mann nicht besser kennen gelernt zu haben, doch andererseits hatte er ihr nichts bedeutet. In ihren Augen war er einfach nur ein armer Mann gewesen, der mit dem Leben nicht zurecht gekommen war. Sie war dankbar dafür, dass er nicht gelitten hatte und in einem Zustand des Friedens und der Ruhe gestorben war.
Sie legte ihre Hand auf seine. Das hatte keine besondere Bedeutung, war nur eine kleine Geste für sich selbst, als die Fürsorgende, als diejenige, die ihm Zuflucht verschafft hatte.
Tavie zog sich wetterfeste Kleidung an und holte eine Schubkarre und einen Spaten. Sie war keine schwächliche Person, aber dennoch gestaltete es sich als äußerst mühsam, Lennox' Körper so zu drapieren, dass er in die Karre passte, Zum Glück war er nicht besonders groß oder dick.
Mit großer Kraftanstrengung schob sie die Schubkarre mit der Leiche hinter den Gemüsegarten, dort wo der Wald begann. Sie kannte eine kleine lichte Stelle, an der sie die Karre abstellte und begann, ein Loch zu graben. Die feuchte Luft machte die Erde locker, aber besonders tief wurde die Grube nicht. Völlig verdreckt und ziemlich erschöpft wuchtete sie den Körper in die seichte Vertiefung, schüttete sie mit der Erde zu und trat sie platt.
Sie hatte nicht mal in seinen Taschen nach einem Ausweis oder Hinweisen auf Angehörige nachgeschaut. Sie fand es unwichtig, und nun, da er tot war, betrachtete sie alles, was mit ihm zu tun hatte, als erledigt. Obwohl es nicht leicht für sie war, diesen Mann, mit dem sie noch am Vorabend gesprochen hatte, mit Erde zuzuschütten, besonders sein trauriges Gesicht, geriet sie nicht aus der Fassung und betrachtete die Sache als eines dieser unangenehmen Dinge, vor denen man sich nicht drücken konnte.
Sie stellte keinen Stein, geschweige denn ein Kreuz auf, um das Grab zu markieren. Sie dachte sich, dass die Natur ihre Arbeit beginnen sollte und darüber hinaus nichts von Bedeutung war.
Völlig erschöpft stellte sich Tavie unter die Dusche hinter dem Haus.
Die Kälte machte ihr in diesem Moment nichts aus. Sie wollte sich nur von dieser schlimmen Angelegenheit reinigen.
Mit frischer Kleidung igelte sich Tavie in ihr Haus ein, aß Käse und geröstetes Brot, las ihr Buch und wartete darauf, dass der Tag vorüber ging und sie wieder schlafen und genügend Abstand zu dem Geschehen gewinnen konnte.

Tavie lebte weiter wie bisher. Sie schrieb ein kleines Buch über einen Wolf und machte eine Inventur der Vorräte, die sie nicht selbst herstellen konnte. Vielleicht würde sie in einem knappen Jahr wieder in die Stadt gehen müssen, aber sie lebte sparsam.
So gingen sechs Monate ins Land, und nach einem überraschend milden Winter stand der Frühling vor der Tür. Erste Knospen platzten auf, und das Licht zeichnete die Welt mit schärferen Konturen, so als ob es prüfen wollte, ob alles an seinem Platz war. Tavie hatte sich vor kurzem die Haare geschnitten und trug sie nun so kurz, dass sie nur noch bis zu ihren Ellenbogen reichten.
Wenn es draußen angenehm war, saß sie am Steg und schaute auf das Wasser und in den Himmel. Auch die Baumwipfel waren ihr so vertraut, dass sie all ihre Bewegungen, die der Wind verursachte, voraussehen konnte, so wie bei einem bekannten Lied. Kleine Windstöße waren die Strophe, und stärkere der Refrain.
Wenn das Wetter es nicht so gut meinte, saß sie nur auf dem Steg, wenn sie es dringend brauchte, damit sie in ihr heimisches Jetzt versinken konnte. Das tat sie auch bei starkem Regen und Schnee.
Heute spannte sich ein einigermaßen milder Abend über den See. Die Sonne war noch nicht ganz verschwunden, und man konnte ihr Licht deutlich auf den Spitzen der Wipfel golden tanzen sehen.
Aus der Weite es Sees näherte sich ein Boot.
Tavie sah zu, wie es direkt auf den Steg zuhielt, und sie konnte deutlich erkennen, dass ein Mann am Ruder saß, der keinerlei Anzeichen von Erschöpfung zeigte.
Als das Boot nahe genug war, um die Gesichtszüge des Mannes zu erkennen, stellte sie fest, dass diese identisch waren mit denen des Mannes, dem sie vor einem halben Jahr Unterschlupf gewährt hatte.
Als wenn er wieder auferstanden wäre, ruderte Lennox auf den Steg zu.
Tavie staunte nicht schlecht. Und sie wartete ab.
Der Mann erhob sich und schaffte es, sich am Steg festzuhalten. Er hatte Tavie nicht eines Blickes gewürdigt, und nun, da er im Begriff war, den Steg zu besteigen, tat er es immer noch nicht.
Tavie fiel auf, dass dieser Lennox entschlossener und kräftiger wirkte als der erste.
Schließlich, als der zweite Lennox ihr gegenüber stand, fragte er:
„Sind Sie allein?“
„Oh ja, das bin ich.“ Tavie antwortete ganz unvoreingenommen, vollkommen ehrlich.
„Gut“, sagte Lennox und holte aus seiner Jacke eine Pistole heraus, die mit der vom ersten Lennox
identisch zu sein schien. Auch die Kleidung war die gleiche.
Lennox richtete die Waffe auf Tavie:
„Sie gehen jetzt mal schön voraus. Und keine plötzlichen Bewegungen, das mag ich nicht.“
„In Ordnung“ sagte Tavie und behielt ihren gleichmütigen Ton bei. Sie ging voran, und der zweite Lennox folgte ihr.
Sofort als beide sich im Haus befanden, begann der Mann alles zu untersuchen, nach Nebentüren, Waffen und Kommunikationsmöglichkeiten.
„Wo ist Ihr Telefon?“ fragte er streng.
„Ich habe keins.“ Tavie stand einfach da und wartete, bis Lennox mit seiner Inspektion fertig war. Er fand eine kleine Axt und diverse Messer in der Küche, die er alle auf einen Haufen legte.
„Sie leben hier ganz allein? Ohne Mann?“
„Wozu sollte ich einen Mann brauchen?“
„Die Fragen stelle ich, ist das klar? Es muss doch irgendwer hierher kommen. Irgendwann. Sagen Sie mir die Wahrheit!“
„Nein, niemand kommt hierher.“
Lennox sah sie überaus misstrauisch an. Er öffnete einen der Küchenschränke, fand eine Flasche mit selbstgemachtem Apfelmost und schüttete ihn in sich hinein.
„Ich habe Hunger!“ sagte er barsch.
„Das kann ich mir vorstellen. Ich habe noch ein halbes Kaninchen im Ofen. Ich kann es aufwärmen. Und dazu kann ich Dir ein wenig Gemüse anbieten.“
„Haben Sie das Kaninchen selbst gefangen?“
„Ja, das gelingt mir manchmal.“
„Womit?“
„Ich habe ein paar Fallen im Wald aufgestellt.“
Lennox begnügte sich damit. Er fand auch eine Flasche Scotch, eine andere als vor sechs Monaten, öffnete sie und nahm einen kleinen Schluck. Dann ging er zu der Sitzgruppe, schob sich den Sessel zurecht, setzte sich und atmete durch.
„Endlich sitzen!“ sagte er. Tavie warf den Ofen an. Sie spürte, dass sie Lennox nicht aufregen durfte, also stellte sie ihm keine Fragen. Natürlich wunderte sie sich, wie so etwas möglich sein konnte, dass ein identischer Mann zwei Mal mit einem Boot von jenseits des Sees zu ihr kam und bei ihr Schutz suchte, aber sie verordnete sich Muße und vertraute darauf, dass sich eine Erklärung irgendwann von selbst aufdrängen würde.
„Haben Sie Angst?“ fragte Lennox, und sein Ton verriet, dass ihn die Vorstellung einer ängstlichen Tavie amüsierte..
„Ja, ein wenig schon.“ gab Tavie zu.
„Das sollten Sie auch. Wenn Sie schön brav bleiben und tun was ich sage, passiert Ihnen vielleicht nichts.“


Nächster Teil Freitag, 23.05.2014 


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