Donnerstag, 8. Mai 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen - Teil II



Teil II

„Hier kann Dich keiner hören, außer mir.“
„Ja, scheint mir auch so ... Ach was soll's, ich habe ein paar dumme Sachen gemacht. Ein paar Läden überfallen.“
„Oh, Überfälle? Und was sprang dabei heraus?“
„Nicht besonders viel, aber ich habe jemanden angeschossen. Das war eigentlich ein Versehen, aber wer fragt schon danach?“
„Ich glaube das kommt in jedem Fall auf gefährliche Körperverletzung während eines Überfalls heraus, juristisch betrachtet.“
„Ich bin mir gar nicht mehr so sicher ... Kann auch sein, dass dieser Kerl nun tot ist.“
„Wo hast Du ihn denn getroffen?“
„Ich glaube in den Oberkörper.“
„So so. Nun, da haben wir allerhand Dinge, die kaputt gehen können. Zum Beispiel das Herz.“
„Ja, kann sein. Ich mag gar nicht daran denken.“
„Wenn Du jemanden umgebracht hast, lässt sich das nicht mehr ändern. Und nun wolltest Du Dich stellen, weil Du keine Lust mehr hattest zu fliehen ...“
„Sie hätten mich sowieso gekriegt. Hat doch alles keinen Sinn.“
„Das mag Dich jetzt vielleicht überraschen, aber wie es scheint, kommst Du vom anderen Ufer, oder womöglich vom Fluss, und hier auf meiner Seite befindest Du Dich hinter der Grenze. Hier wird Dich niemand mehr suchen.“
Lennox stutzte. Konnte er so weit gerudert sein, den ganzen Weg über den großen See?
„Ich bin über der Grenze?“
„Ja, es sieht ganz danach aus.“
Lennox lächelte zum ersten Mal. Doch dann begann sich seine Trübnis wieder durchzusetzen:
„Ach nein, was soll man da noch falsche Hoffnungen hegen ... Sie werden mich kriegen, das weiß ich. Ich bin für so etwas nicht klug genug. Sagen Sie, könnte ich wohl Ihr Telefon benutzen? Ich möchte gleich die Polizei verständigen. Es ist besser so. Dann sehen sie, dass ich guten Willen zeige ...“
„Daran wäre nichts auszusetzen, aber ich habe kein Telefon.“
„Kein Telefon? Und wie, äh, kommunizieren Sie mit der Außenwelt? Sie müssen doch erreichbar sein.“
„Wieso muss ich das? Die Suppe ist sofort heiß. Brot dazu?“
„Ja, danke. Aber soll das heißen, Sie leben hier ganz allein ohne Kontakt zu Anderen? Ich habe draußen auch keinen Wagen gesehen. Sie sind hier ja völlig abgeschnitten.“
„Sozusagen.“
Lennox war verblüfft.
„Und darf ich fragen, wie lange Sie schon hier leben?“
„Etwa vier Jahre.“
„Das ist ja wie in einem Gefängnis, wenn man nicht weg kann ...“
„Ich glaube es gibt kein Wort, das unpassender wäre. Und wieso sollte ich nicht weggehen können? Ich habe zwei Beine, oder?“
„Und Sie leben hier freiwillig?“
„Ganz und gar.“
Tavie schnitt ein paar Scheiben des selbst gebackenen Brots ab.
Lennox begann, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass er sich hier in Sicherheit befand. Er begriff, dass er nun tatsächlich ausruhen konnte. Er nippte an dem Scotch.
„Dann sind Sie so etwas ähnliches wie eine Einsiedlerin? Eine Art Aussteigerin?“
„Ausgestiegen dort, eingestiegen hier. Das klingt nach einer Zugfahrt. Vielleicht ist das Leben ein Zug, oder vielleicht ist es ein See ...“ lächelte Tavie. Lennox zuckte mit den Schultern und sagte:
„In meinem Fall war es eine einzige Talfahrt.“
„Das kann gar nicht sein. Selbst wenn Du jetzt in einem Tal bist, so warst Du doch irgendwann mal auf einer Anhöhe. Sonst würdest Du es gar nicht vergleichen können.“
„Diese Anhöhe war aber nicht höher als ein Rodelberg … Oder ein Müllhaufen.“
„Auch ein Müllhaufen will erstmal erklommen werden.“
Tavie reichte ihm einen Teller mit kräftiger Gemüsesuppe und ein Stück Brot.
„Vielen Dank! … Wie darf ich Sie eigentlich anreden?“
„Ich bin Tavie.“
„Komischer Name.“
„Was hast Du denn gemacht, bevor Du Überfälle begangen hast?“
„Ich war in einer Firma für die Auslieferung zuständig. Das war nur ein Job, keine Berufung. Früher war ich Lehrer für Geographie, aber das habe ich aufgegeben. Es wurde mir zu viel. Aber mein Chef musste Personal einsparen und hat mich entlassen. Ich hatte gerade diese Scheidung hinter mich gebracht und geschafft, meiner Frau nur ein Minimum an Unterhalt zu zahlen, und dann war ich nicht mal dazu mehr in der Lage.“
„Und schließlich hat es klick gemacht, und Du wurdest zu einem Verbrecher ...“
„Niemals hätte ich ein richtiger Verbrecher werden können, obwohl ich beim ersten Mal ein echt gutes Gefühl gehabt habe. Doch wenn plötzlich klar wird, nach wem sie suchen und man nur noch auf der Flucht ist, merkt man sehr schnell, dass man für so ein Leben nicht geschaffen ist.“
„Ja, man trifft eine falsche Entscheidung, und dann steht man da … Ich weiß.“
„Ich habe mich innerlich schon auf das Gefängnis eingestellt. Dort könnte mich wenigstens niemand mehr behelligen, nicht mit Rechnungen, Forderungen und den ganzen Scheiß. Im Knast ist man komplett kalt gestellt, aus dem Spiel. Vielleicht wäre das ganz gut gewesen.“
„Aus allem raus und im warmen Gitterkäfig, ja. Und nun bist Du immer noch frei. Zu blöd, hm?“
Lennox konnte ihre Ironie heraushören. Er wollte darauf nicht einsteigen, sondern freundlich bleiben:
„Jedenfalls tut es mir wahnsinnig Leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache. Wenn ich die Suppe gegessen habe, werde ich Sie in Ruhe lassen. Es ist nicht meine Art, wildfremde Menschen zu belästigen.“
„Na, Du hast wildfremde Menschen überfallen, wie ich annehme. Lennox, es steht Dir frei zu gehen wann und wohin Du willst. Doch lass Dich warnen: Die nächste Ortschaft ist sehr weit weg in Richtung Westen. Du wirst mehrere Stunden bis dorthin brauchen. Und so erschöpft wie Du bist, und es wird Nacht ...“
Lennox fand es seltsam, dass diese Frau ihm nun andeutungsweise anbot, bei ihr zu übernachten.
„Wieso tun Sie das? Sie kennen mich doch gar nicht. Vertrauen Sie denn jedem wildfremden Menschen?“
„Das ist keine Frage des Vertrauens, sondern der Menschenkenntnis. Außerdem bin ich äußerst gutherzig.“
Lennox musste grinsen.
„Ja, das habe ich sofort gemerkt. Und Sie haben überhaupt keine Angst ...“ Lennox beobachtete Tavie genauer:
„Oder Sie haben nur vor mir keine Angst. Ha, das ist ja auch schwer möglich, so wie ich mich benommen habe. Wissen Sie, ich hatte mal eine Zeit, da habe ich gedacht, ich würde Stärke und Durchsetzungsvermögen besitzen, aber da hatte ich hauptsächlich mit Kindern zu tun. Und die haben mir ziemlich schnell das Gegenteil bewiesen.“
Lennox schlürfte die Suppe mit großem Appetit, während Tavie ihm gegenüber vor dem Feuer Platz genommen hatte und sich eine Zigarette drehte. Lennox spürte, dass sie nun ein klein wenig in sich versunken war und traute sich nicht, sie anzusprechen.
Als Tavie ihre Zigarette gedreht und angezündet hatte, sagte sie:
„Du schläfst Dich erstmal richtig aus. Die Couch sollte Dir genügen. Morgen scheint bestimmt die Sonne, und die Vögel singen, und das tun sie gerade hier besonders schön. Und Du wirst frühstücken und Dich ausruhen. Und dann, vielleicht dann, kannst Du Dir überlegen, wie es weitergehen soll. Jedenfalls brauchst Du keine Angst zu haben, dass ich Dich verjage.“
„Ich werde Ihnen bestimmt nicht lange zur Last fallen. Sie haben recht, morgen ist ein neuer Tag, und ich werde Zeit haben, um nachzudenken. Die hatte ich in den letzten zwei Wochen nicht. Und ja, dann werde ich mehr wissen und mich besinnen. Irgendwie muss es ja weitergehen mit mir. Und wenn die Behörden dieses Landes mich in Ruhe lassen würden, dann könnte ich vielleicht neu anfangen. Irgendwie.“
„Das nenne ich mal ein gutes Wort zum beginnenden Abend.“
Lennox versuchte, sich zu entspannen und dieses Zusammentreffen unabhängig von seinen Umständen zu betrachten:
„Was machen Sie hier eigentlich den ganzen Tag? Was haben Sie für einen Beruf?“
„Ich kümmere mich um die Umgebung, um meinen Gemüsegarten. Ich lese und schreibe. Aber was ich hauptsächlich tue, ist, mich selbst zu bündeln.“
„Eine seltsame Formulierung. Wie macht man so etwas?“
„Man spürt sich selbst im Jetzt. Ungedenk des Gestern und des Morgen. Denn die Vergangenheit ist vorüber, und die Zukunft unbekannt. Ich kann heute einen Samen in die Erde werfen, der morgen zu einer Pflanze heranwächst. Aber so lange ich sähe, ist es nur ein Sähen.“
„Das scheint mir alles ziemlich philosophisch zu sein. Nun ja, wenn man so lange allein ist, bekommt man wohl solche Gedanken. Haben Sie keinen Mann oder Freund? Oder Kinder?“
„Ich sagte doch schon: Die Vergangenheit ist irrelevant. Möchtest Du nicht lieber hier sitzen und Dich aufwärmen, diese Suppe genießen und den Scotch, als an das Gefängnis zu denken und daran, dass Du vielleicht jemanden getötet hast? Das lässt sich nicht mehr ändern. Aber es liegt hinter Dir.“
„Ja, aber ist das nicht zu einfach? Man muss doch für seine Taten geradestehen.“
„Man muss sich der Tragweite bewusst sein, während man etwas tut, und nicht hinterher. Wenn die Menschen das beherzigen würden, gäbe es weniger Untaten, denke ich.“
„Natürlich, dann würden wir in einer perfekten Welt leben. Die Menschen sind leider nicht immer so klug.“
„Da hast Du recht.“
Lennox beobachtete, dass Tavie ein wenig von ihrem Gleichmut verloren hatte. Sie stand auf, ging zu ihrer Küchenecke und machte sich selbst einen Teller Suppe zurecht. Lennox spürte, dass er sehr müde wurde. Obwohl er Tavies Worte nicht vollständig verstanden hatte, sie ihm ein wenig zu hoch gewesen waren, strömten sie in sein Innerstes ein und gossen sich dort aus.
Der Begriff des „Jetzt“ übte eine mächtige Wirkung der Beruhigung bei ihm aus. Wie ein Zauberspruch erzeugte er bei Lennox eine vollkommen neue Entspannung, ein Loslösen von all den Dingen, die ihm im Kopf herumgespukt waren. Er schloss die Augen, und nach nicht mal einer Minute flossen ihm Tränen über die Wangen.
Tavie kam mit ihrem Teller Suppe dazu und setzte sich wieder auf den Boden vor dem Kamin.
„Es ist okay“ sagte sie sanft, „Schlaf nur ...“
Lennox hatte sie gehört. Aber schlafen wollte er noch nicht, nur sitzen und alles hinwegfließen lassen. Und er fühlte sich sehr wohl in Tavies Gegenwart. Er hatte keine Ahnung wer sie war, und es kam ihm immer noch recht ungewöhnlich vor, dass sie ihn einfach so eingeladen hatte. Aber er nahm langsam das Gefühl an, dass ihm hier nichts passieren konnte. Und er wollte auch nicht mehr sprechen.
„Wenn Du möchtest, leg Dich auf die Couch. Da kannst Du Dich ausstrecken. Ich hole Dir eine Decke. Und morgen machst Du erstmal einen Spaziergang und siehst Dich um.“
Lennox hatte den letzten Satz nicht mehr gehört, denn er war eingeschlafen.

Nächster Teil Freitag, 16.05.2014


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