Teil II
„Hier kann Dich
keiner hören, außer mir.“
„Ja, scheint mir
auch so ... Ach was soll's, ich habe ein paar dumme Sachen gemacht.
Ein paar Läden überfallen.“
„Oh, Überfälle?
Und was sprang dabei heraus?“
„Nicht besonders
viel, aber ich habe jemanden angeschossen. Das war eigentlich ein
Versehen, aber wer fragt schon danach?“
„Ich glaube das
kommt in jedem Fall auf gefährliche Körperverletzung während eines
Überfalls heraus, juristisch betrachtet.“
„Ich bin mir gar
nicht mehr so sicher ... Kann auch sein, dass dieser Kerl nun tot
ist.“
„Wo hast Du ihn
denn getroffen?“
„Ich glaube in den
Oberkörper.“
„So so. Nun, da
haben wir allerhand Dinge, die kaputt gehen können. Zum Beispiel das
Herz.“
„Ja, kann sein.
Ich mag gar nicht daran denken.“
„Wenn Du jemanden
umgebracht hast, lässt sich das nicht mehr ändern. Und nun wolltest
Du Dich stellen, weil Du keine Lust mehr hattest zu fliehen ...“
„Sie hätten mich
sowieso gekriegt. Hat doch alles keinen Sinn.“
„Das mag Dich
jetzt vielleicht überraschen, aber wie es scheint, kommst Du vom
anderen Ufer, oder womöglich vom Fluss, und hier auf meiner Seite
befindest Du Dich hinter der Grenze. Hier wird Dich niemand mehr
suchen.“
Lennox stutzte.
Konnte er so weit gerudert sein, den ganzen Weg über den großen
See?
„Ich bin über der
Grenze?“
„Ja, es sieht ganz
danach aus.“
Lennox lächelte zum
ersten Mal. Doch dann begann sich seine Trübnis wieder
durchzusetzen:
„Ach nein, was
soll man da noch falsche Hoffnungen hegen ... Sie werden mich
kriegen, das weiß ich. Ich bin für so etwas nicht klug genug. Sagen
Sie, könnte ich wohl Ihr Telefon benutzen? Ich möchte gleich die
Polizei verständigen. Es ist besser so. Dann sehen sie, dass ich
guten Willen zeige ...“
„Daran wäre
nichts auszusetzen, aber ich habe kein Telefon.“
„Kein Telefon? Und
wie, äh, kommunizieren Sie mit der Außenwelt? Sie müssen doch
erreichbar sein.“
„Wieso muss ich
das? Die Suppe ist sofort heiß. Brot dazu?“
„Ja, danke. Aber
soll das heißen, Sie leben hier ganz allein ohne Kontakt zu Anderen?
Ich habe draußen auch keinen Wagen gesehen. Sie sind hier ja völlig
abgeschnitten.“
„Sozusagen.“
Lennox war
verblüfft.
„Und darf ich
fragen, wie lange Sie schon hier leben?“
„Etwa vier Jahre.“
„Das ist ja wie in
einem Gefängnis, wenn man nicht weg kann ...“
„Ich glaube es
gibt kein Wort, das unpassender wäre. Und wieso sollte ich nicht
weggehen können? Ich habe zwei Beine, oder?“
„Und Sie leben
hier freiwillig?“
„Ganz und gar.“
Tavie schnitt ein
paar Scheiben des selbst gebackenen Brots ab.
Lennox begann, sich
mit dem Gedanken anzufreunden, dass er sich hier in Sicherheit
befand. Er begriff, dass er nun tatsächlich ausruhen konnte. Er
nippte an dem Scotch.
„Dann sind Sie so
etwas ähnliches wie eine Einsiedlerin? Eine Art Aussteigerin?“
„Ausgestiegen
dort, eingestiegen hier. Das klingt nach einer Zugfahrt. Vielleicht
ist das Leben ein Zug, oder vielleicht ist es ein See ...“ lächelte
Tavie. Lennox zuckte mit den Schultern und sagte:
„In meinem Fall
war es eine einzige Talfahrt.“
„Das kann gar
nicht sein. Selbst wenn Du jetzt in einem Tal bist, so warst Du doch
irgendwann mal auf einer Anhöhe. Sonst würdest Du es gar nicht
vergleichen können.“
„Diese Anhöhe war
aber nicht höher als ein Rodelberg … Oder ein Müllhaufen.“
„Auch ein
Müllhaufen will erstmal erklommen werden.“
Tavie reichte ihm
einen Teller mit kräftiger Gemüsesuppe und ein Stück Brot.
„Vielen Dank! …
Wie darf ich Sie eigentlich anreden?“
„Ich bin Tavie.“
„Komischer Name.“
„Was hast Du denn
gemacht, bevor Du Überfälle begangen hast?“
„Ich war in einer
Firma für die Auslieferung zuständig. Das war nur ein Job, keine
Berufung. Früher war ich Lehrer für Geographie, aber das habe ich
aufgegeben. Es wurde mir zu viel. Aber mein Chef musste Personal
einsparen und hat mich entlassen. Ich hatte gerade diese Scheidung
hinter mich gebracht und geschafft, meiner Frau nur ein Minimum an
Unterhalt zu zahlen, und dann war ich nicht mal dazu mehr in der
Lage.“
„Und schließlich
hat es klick gemacht, und Du wurdest zu einem Verbrecher ...“
„Niemals hätte
ich ein richtiger Verbrecher werden können, obwohl ich beim ersten
Mal ein echt gutes Gefühl gehabt habe. Doch wenn plötzlich klar
wird, nach wem sie suchen und man nur noch auf der Flucht ist, merkt
man sehr schnell, dass man für so ein Leben nicht geschaffen ist.“
„Ja, man trifft
eine falsche Entscheidung, und dann steht man da … Ich weiß.“
„Ich habe mich
innerlich schon auf das Gefängnis eingestellt. Dort könnte mich
wenigstens niemand mehr behelligen, nicht mit Rechnungen, Forderungen
und den ganzen Scheiß. Im Knast ist man komplett kalt gestellt, aus
dem Spiel. Vielleicht wäre das ganz gut gewesen.“
„Aus allem raus
und im warmen Gitterkäfig, ja. Und nun bist Du immer noch frei. Zu
blöd, hm?“
Lennox konnte ihre
Ironie heraushören. Er wollte darauf nicht einsteigen, sondern
freundlich bleiben:
„Jedenfalls tut es
mir wahnsinnig Leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache. Wenn ich
die Suppe gegessen habe, werde ich Sie in Ruhe lassen. Es ist nicht
meine Art, wildfremde Menschen zu belästigen.“
„Na, Du hast
wildfremde Menschen überfallen, wie ich annehme. Lennox, es steht
Dir frei zu gehen wann und wohin Du willst. Doch lass Dich warnen:
Die nächste Ortschaft ist sehr weit weg in Richtung Westen. Du wirst
mehrere Stunden bis dorthin brauchen. Und so erschöpft wie Du bist,
und es wird Nacht ...“
Lennox fand es
seltsam, dass diese Frau ihm nun andeutungsweise anbot, bei ihr zu
übernachten.
„Wieso tun Sie
das? Sie kennen mich doch gar nicht. Vertrauen Sie denn jedem
wildfremden Menschen?“
„Das ist keine
Frage des Vertrauens, sondern der Menschenkenntnis. Außerdem bin ich
äußerst gutherzig.“
Lennox musste
grinsen.
„Ja, das habe ich
sofort gemerkt. Und Sie haben überhaupt keine Angst ...“ Lennox
beobachtete Tavie genauer:
„Oder Sie haben
nur vor mir keine Angst. Ha, das ist ja auch schwer möglich,
so wie ich mich benommen habe. Wissen Sie, ich hatte mal eine Zeit,
da habe ich gedacht, ich würde Stärke und Durchsetzungsvermögen
besitzen, aber da hatte ich hauptsächlich mit Kindern zu tun. Und
die haben mir ziemlich schnell das Gegenteil bewiesen.“
Lennox schlürfte
die Suppe mit großem Appetit, während Tavie ihm gegenüber vor dem
Feuer Platz genommen hatte und sich eine Zigarette drehte. Lennox
spürte, dass sie nun ein klein wenig in sich versunken war und
traute sich nicht, sie anzusprechen.
Als Tavie ihre
Zigarette gedreht und angezündet hatte, sagte sie:
„Du schläfst Dich
erstmal richtig aus. Die Couch sollte Dir genügen. Morgen scheint
bestimmt die Sonne, und die Vögel singen, und das tun sie gerade
hier besonders schön. Und Du wirst frühstücken und Dich ausruhen.
Und dann, vielleicht dann, kannst Du Dir überlegen, wie es
weitergehen soll. Jedenfalls brauchst Du keine Angst zu haben, dass
ich Dich verjage.“
„Ich werde Ihnen
bestimmt nicht lange zur Last fallen. Sie haben recht, morgen ist ein
neuer Tag, und ich werde Zeit haben, um nachzudenken. Die hatte ich
in den letzten zwei Wochen nicht. Und ja, dann werde ich mehr wissen
und mich besinnen. Irgendwie muss es ja weitergehen mit mir. Und wenn
die Behörden dieses Landes mich in Ruhe lassen würden, dann könnte
ich vielleicht neu anfangen. Irgendwie.“
„Das nenne ich mal
ein gutes Wort zum beginnenden Abend.“
Lennox versuchte,
sich zu entspannen und dieses Zusammentreffen unabhängig von seinen
Umständen zu betrachten:
„Was machen Sie
hier eigentlich den ganzen Tag? Was haben Sie für einen Beruf?“
„Ich kümmere mich
um die Umgebung, um meinen Gemüsegarten. Ich lese und schreibe. Aber
was ich hauptsächlich tue, ist, mich selbst zu bündeln.“
„Eine seltsame
Formulierung. Wie macht man so etwas?“
„Man spürt sich
selbst im Jetzt. Ungedenk des Gestern und des Morgen. Denn die
Vergangenheit ist vorüber, und die Zukunft unbekannt. Ich kann heute
einen Samen in die Erde werfen, der morgen zu einer Pflanze
heranwächst. Aber so lange ich sähe, ist es nur ein Sähen.“
„Das scheint mir
alles ziemlich philosophisch zu sein. Nun ja, wenn man so lange
allein ist, bekommt man wohl solche Gedanken. Haben Sie keinen Mann
oder Freund? Oder Kinder?“
„Ich sagte doch
schon: Die Vergangenheit ist irrelevant. Möchtest Du nicht lieber
hier sitzen und Dich aufwärmen, diese Suppe genießen und den
Scotch, als an das Gefängnis zu denken und daran, dass Du vielleicht
jemanden getötet hast? Das lässt sich nicht mehr ändern. Aber es
liegt hinter Dir.“
„Ja, aber ist das
nicht zu einfach? Man muss doch für seine Taten geradestehen.“
„Man muss sich der
Tragweite bewusst sein, während man etwas tut, und nicht hinterher.
Wenn die Menschen das beherzigen würden, gäbe es weniger Untaten,
denke ich.“
„Natürlich, dann
würden wir in einer perfekten Welt leben. Die Menschen sind leider
nicht immer so klug.“
„Da hast Du
recht.“
Lennox beobachtete,
dass Tavie ein wenig von ihrem Gleichmut verloren hatte. Sie stand
auf, ging zu ihrer Küchenecke und machte sich selbst einen Teller
Suppe zurecht. Lennox spürte, dass er sehr müde wurde. Obwohl er
Tavies Worte nicht vollständig verstanden hatte, sie ihm ein wenig
zu hoch gewesen waren, strömten sie in sein Innerstes ein und gossen
sich dort aus.
Der Begriff des
„Jetzt“ übte eine mächtige Wirkung der Beruhigung bei ihm aus.
Wie ein Zauberspruch erzeugte er bei Lennox eine vollkommen neue
Entspannung, ein Loslösen von all den Dingen, die ihm im Kopf
herumgespukt waren. Er schloss die Augen, und nach nicht mal einer
Minute flossen ihm Tränen über die Wangen.
Tavie kam mit ihrem
Teller Suppe dazu und setzte sich wieder auf den Boden vor dem Kamin.
„Es ist okay“
sagte sie sanft, „Schlaf nur ...“
Lennox hatte sie
gehört. Aber schlafen wollte er noch nicht, nur sitzen und alles
hinwegfließen lassen. Und er fühlte sich sehr wohl in Tavies
Gegenwart. Er hatte keine Ahnung wer sie war, und es kam ihm immer
noch recht ungewöhnlich vor, dass sie ihn einfach so eingeladen
hatte. Aber er nahm langsam das Gefühl an, dass ihm hier nichts
passieren konnte. Und er wollte auch nicht mehr sprechen.
„Wenn Du möchtest,
leg Dich auf die Couch. Da kannst Du Dich ausstrecken. Ich hole Dir
eine Decke. Und morgen machst Du erstmal einen Spaziergang und siehst
Dich um.“
Lennox hatte den
letzten Satz nicht mehr gehört, denn er war eingeschlafen.
Nächster Teil Freitag, 16.05.2014
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