Donnerstag, 22. Mai 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen - Teil IV



Teil IV

Tavie schnitt ein wenig Gemüse und schwieg.
„Und Sie leben hier wirklich ganz alleine? Ausgestiegen? Oder Dreck am Stecken?“
„Irgendwas dazwischen.“ sagte Tavie lakonisch.
„Das kann mir auch egal sein. Sie werden tun was ich sage, und Ihre Lebensgeschichte ist mir scheißegal. Ich bin nicht auf Sie angewiesen. Wenn ich Lust bekomme, dann knalle ich Sie einfach ab. Ich komme hier auch alleine klar. Es ist nur meinem Wohlwollen unterworfen, ob Sie am Leben bleiben. Haben wir uns verstanden?“
„Möchtest Du Knoblauch zum Kaninchen?“
Lennox hätte beinah gelacht, aber sein Unmut über Tavies augenscheinliche Gelassenheit war stärker:
„Sie sind wohl nicht ganz richtig in der Birne, wie? Ne arme Irre, von der Gesellschaft ausgestoßen, in der Einsamkeit wunderlich geworden. Ihnen ist wohl alles egal, was?“
„Oh nein. Aber was kann ich denn schon tun? Sie haben eine Waffe und die Verhältnisse ganz klargestellt. Also, was soll ich noch sagen?“
„Normalerweise fangen die Menschen an zu weinen und zu betteln, wenn ich auftauche.“
„Das mag sein, aber soll ich mich jetzt dafür entschuldigen, dass ich mich auf Ihr Kaninchen konzentriere? Ich weiß immer noch nicht, ob Sie ein wenig Knoblauch wollen oder nicht.“
Lennox grinste und sagte:
„Den Knoblauch lassen wir mal weg. Das ist nicht gut für den Atem, und man kann ja nicht wissen, wie nah wir uns noch kommen werden, Fräulein.“
„Nein,“ bestätigte Tavie trocken, „das kann man nie wissen.“
Lennox hatte genug von diesem Stoizismus. Er hob seine Pistole und schoss willkürlich in die Decke. Tavie zuckte, jauchzte im Schreck, und schaute nach oben. Sie konnte das Einschussloch sehen und sagte:
„Der Schuss ist nicht durchgegangen, Gottseidank. Ich habe nämlich keine Lust, schon wieder da raufzuklettern und zu flicken.“
Lennox erkannte nun, dass sich Tavie zwar im Griff hatte, aber nicht ohne Angst war. Er konnte es an kleinen Signalen ihres Körpers sehen, und an ihren Augen.
„Ich hoffe, liebe Dame, wir verstehen uns jetzt.“ sagte er schulmeisterlich.
Tavie baute sich vor dem Mann und auf und stützte ihre Hände in die Hüften:
„Ich habe Dich zu keinem Zeitpunkt missverstanden, Lennox! Alles läuft nach Wunsch. Das Kaninchen ist in zehn Minuten warm. Du hast Whisky, Du sitzt bequem und kannst Dich bedienen lassen. Was hast Du auszusetzen?“
Lennox blickte sie an. Er neigte den Kopf schräg:
„Woher kennen Sie meinen Namen?“
Tavie wollte darauf nicht antworten. Lennox sprang auf und begann, den Raum nach einem Radio oder einem Fernseher zu durchsuchen. Einen Fernseher fand er auch, aber unter einigem Kram versteckt, so als würde er nie oder selten benutzt.
„Was hast Du von mir erfahren? Wie viel wissen die Bullen? Sie konnten nicht gesehen haben, wie ich das Boot genommen habe, vollkommen unmöglich.“
Tavie sah Lennox beim Durchwühlen ihrer Sachen zu und sagte nichts. Sie wusste wirklich nicht, wie sie ihm begreiflich machen sollte, dass ein Zwilling von ihm ein halbes Jahr vorher ebenfalls hier aufgetaucht war.
Als Lennox hinter der Sitzecke in einer Kiste stöberte, stieß er auf ein gerahmtes Foto. Es zeigte einen Mann und einen kleinen Jungen. Er hielt es hoch, so dass Tavie es sehen konnte:
„Wer ist das? Deine Familie? Hübscher Bengel. Das Foto ist schon älter, hm?“
Tavie wollte nicht, dass er dieses Foto in den Händen hielt. Aber sie konnte es ihm nicht verbieten. Doch in diesem Moment war es ihr lieber, er würde weiter darauf pochen, woher sie seinen Namen wusste, als nach dem Foto zu fragen. Lennox ließ das Bild einfach auf den Boden fallen, worauf der Rahmen zersprang, und sagte:
„Scheiß drauf, das interessiert mich nicht. Also nochmal: Woher wissen Sie, wie ich heiße? Ich habe keine Lust, diese Frage tausend Mal zu stellen.“
„Ich glaube Du hast Dich mir vorgestellt, als Du am Steg gelandet bist.“
Lennox schüttelte den Kopf. Tavie versuchte:
„Du musst es irgendwann erwähnt haben. Woher sollte ich es sonst wissen?“
Lennox ließ sich darauf nicht ein:
„Irgendwas ist hier faul. Haben Sie auf mich gewartet? Werden wir beobachtet? Wissen die Anderen, wo ich bin?“
„Ich weißt nichts über irgendwelche Anderen. Ich bin hier ganz allein. Du kannst gerne alles auf den Kopf stellen,“
Lennox sah Tavie streng in die Augen.
„Sie machen jetzt diesen Hasen fertig. Ohne Knoblauch. Und wenn ich fertig gegessen habe, werden wir uns noch etwas eindringlicher über Ihr ominöses Wissen unterhalten. Ich lasse Ihnen noch ein wenig Zeit zum Nachdenken. Noch haben Sie die Chance, mir die Wahrheit zu sagen. Wenn ich aber gesättigt bin und einen kleinen Scotch getrunken habe, werde ich meine zurückhaltende Art beiseite schieben. Dann wird es ernst, Schlampe.“
„Ich denke, ich kann Dir das Kaninchen jetzt servieren.“
Lennox nickte. Er hielt sie für wahnsinnig, oder sie spielte nur die Irre und hatte es faustdick hinter den Ohren. Sie wusste etwas, und Lennox wollte wissen wieso.
Tavie servierte ihm einen Teller mit sauber filetiertem Hasenfleisch, Karotten und Erbsen.
„Ich hoffe dass es Dir schmeckt.“
„Wenn nicht, lege ich Sie um.“
Tavie ging wieder in die Küchenecke. Lennox fühlte sich provoziert, verschaukelt. Und sogar lächerlich gemacht. Ja, die Frau tat alles was er verlangte, aber sie hätte seinen Namen nicht kennen dürfen. Er legte sein Besteck beiseite und nahm die Pistole in die Hand. Er wollte ihr einen neuen Schrecken einjagen, mehr als beim ersten Schuss. Während Tavie mit dem Rücken zu ihm stand und ein paar Gläser abwusch, zielte er auf sie. Dann hielt er den Lauf ein wenig seitlich, sodass der Schuss knapp neben ihrem Kopf einschlagen würde. Er drückte ab. Doch er hörte nur das Klicken des Abzugs.
„Scheiße, schon wieder ...“ sagte er und klopfte die Pistole auf die Armlehne.
„Du Mistding wirst gefälligst Deine Pflicht tun ...“ Er drückte erneut ab, doch es fiel kein Schuss.
„Da sperrt was. Da muss irgendein Scheiß drinstecken ...“ sagte er grübelnd und schaute in den Lauf hinein.
Tavie hörte einen Schuss, laut und brutal. Sie drehte sich um.
Lennox saß da, regungslos, und in der Hand die Pistole, auf den Knien der Teller mit dem Kaninchenfleisch. Sein linkes Auge war nur noch ein dunkles Loch, und hinter ihm an der Wand klebte Blut mit ein paar kleinen Schädelstücken darin.
Tavie schlug die Hände vor den Kopf zusammen.
Das Problem hatte sich von selbst erledigt. In diesem Falle war Tavie überaus dankbar, doch musste sie auch wieder an den ersten Lennox denken, der einfach so eingeschlafen war, ohne wieder zu erwachen.
Zunächst säuberte sie die Wand von Lennox' Kopfinhalt. Und anschließend sah sie sich gezwungen, erneut diese schwere Last aus dem Haus zu schaffen.
Genau neben der Grube des ersten Lennox rollte sie den zweiten aus und ließ ihn in eine neue Grube gleiten.
Langsam wurde die Frage, wie so etwas möglich sein konnte, überaus lästig, aber eine Antwort darauf war nicht in Sicht. Sie klopfte das neue Grab glatt und ging zurück ins Haus.
Tavie futterte die Reste des Kaninchens, die Lennox übrig gelassen hatte, und gönnte sich einen Schnaps.

Vielleicht hatte sie sich hier in diesem Refugium zu sicher gefühlt, so als gäbe es nirgendwo anders etwas, das ihr gefährlich werden konnte. Als sei ihr eigener Geist das einzige, das sie im Auge behalten musste. Doch ironischerweise verursachte die Tötung des zweiten Lennox bei ihr ein Umdenken, in dem sie sich selbst aus dem Mittelpunkt nahm, so auch einige Dogmen in ihrem Leben zu lockern und wieder etwas mehr von dem zuzulassen, was dort draußen vor sich ging.
Sie schloss den Fernseher an und schaute zum ersten Mal seit etwa anderthalb Jahren die Nachrichten und einen Film. Es wühlte sie derart auf, dass sie das Gerät nach dem Abspann wieder ausschaltete und sich für eine Stunde auf den Steg setzte, um sich wieder zu ordnen.
Es war manchmal gut, wenn die Dunkelheit so tat, als gäbe es keinen Tag mehr.
Sie musste an die beiden Lennoxe denken. Einer wie der andere waren Tavies Charakter so fremd gewesen. Doch sie kannte auch andere Menschen gut genug, um zu wissen, dass diese beiden diametralen Zwillinge nichts vertraten, für nichts standen, nichts symbolisierten, nur sich selbst, oder eine Verzerrung von irgendetwas.
Natürlich fühlte sie sich nicht gerade wohl dabei, dass zwei Menschen in ihrem Häuschen umgekommen waren, aber sie hegte die Hoffnung, dass sie niemand vermisste.
Und sie gedachte auch der glücklichen Fügung, was den Tod des Zweiten anging, denn dieser hätte ihr einige schlimme Dinge antun können.
Es galt, sich von dieser Sache zu erholen. Der Sommer stand vor der Tür.

Nächster Teil Freitag, 30.05.2014




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