Donnerstag, 12. Juni 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen – Teil VII



Tavie lächelte, ohne dass Lennox es sehen konnte. Sie kam mit einem großen Teller mit Kartoffeln, geschmolzenem Käse, Brot, Paprika, Peperoni und Quark vor den Kamin.
„Das sieht ja herrlich aus ...“
„Ich horte immer sehr viel Käse, weil ich selbst keinen machen kann.“
„Im Winter ist so ein Essen Gold wert, auch wegen des Vitamin C bei der Paprika und den Peperoni.“
„Ist Dir warm genug?“
„Ja, es ist sehr angenehm.“
„Wie geht es Deinem Bein?“
„Es tut weh, aber nicht so schlimm.“
„Nun iss. Alles wird wieder gut. Du wirst gesund, und dann kehrst Du zurück in Dein Dorf.“
Lennox stöhnte bei dem Gedanken.
Beide aßen und sagten vorerst nichts. Nach dem Mahl entschloss sich Tavie, Lennox' Verband zu wechseln. Diesmal war es anders. Nach dem Gespräch bekam das Verarzten des Beines eine intimere Note, mit der sich Lennox und Tavie vertraut machen mussten. Tavie wusste bereits, dass es zwischen den Beiden eine Verbindung gab, eine Verwandtschaft, doch im Gegensatz zu ihrer Offenheit, die sie zuerst an den Tag gelegt hatte, spürte sie nun ihre eigene Verschlossenheit, und das gefiel ihr nicht. Umso mehr berührte es sie, dass Lennox sie nicht weiter löcherte.
„Du legst Dich jetzt ins Bett.“ sagte sie mütterlich.
„Also gut.“
„Kannst Du aufstehen?“
Sie half ihm. Ächzend nahm er auf ihrem Bett Platz. Er roch ihren Geruch in den Laken.
„Ich kann Dir doch nicht einfach Dein Bett wegnehmen.“
„Hab keine Sorge, da ist ja noch die Couch. Aber sollte ich unbedingt im Bett schlafen wollen, lege ich mich zu Dir.“
Lennox war überrascht. Tavies Ton hatte überhaupt nichts Anzügliches, nur etwas Pragmatisches und Vertrautes. Er legte sich lang und sagte:
„Normalerweise wäre es mir etwas peinlich, im Bett einer fremden Person zu liegen, aber in diesem Fall pfeife ich auf meine Komplexe.“
Tavie musste lachen, sagte aber dann, mit ernsterem Ton:
„Du weißt genau, dass wir beide keine Fremden füreinander sind.“
„Ja, das habe ich sofort gemerkt. Irgendwie ist da dieses Gefühl dass ich Dich schon kenne, aber ich weiß nicht woher. Ich könnte nun wieder irgendwelchen Träumen die Schuld geben ...“
„Träumst Du oft davon, dass Du ein Anderer bist?“
„Das kann vorkommen. Aber ich finde es meist überflüssig, so etwas zu träumen. Und Du?“
„Nein, ich träume anders. Und wie bist Du in Deinen Träumen?“
„Manchmal offener, aber manchmal auch noch viel verschlossener als in Wirklichkeit. Manchmal forsch, manchmal verängstigt.“
„Und kennst Du diese Träume, an die man sich erst erinnert, wenn man im Wachzustand einen Hinweis auf sie erhält? Dass man glaubt, das Erlebte schon einmal in einem Traum gesehen zu haben?“
„Das kenne ich. Aber diese Situation hier habe ich nicht geträumt. Doch um ehrlich zu sein, habe ich mir immer so einen Ort gewünscht. Und deshalb hielt ich es zuerst für einen Traum, hier angekommen zu sein.“
„Schlaf jetzt ein bisschen.“
„Na gut, ich gehorche.“
Tavie saß vor dem Feuer und drehte sich eine Zigarette. Selten während der letzten vier Jahre war sie so durcheinander gewesen. Sie schwankte zwischen Öffnung und Verschlossenheit und befand sich jenseits ihrer Mitte, was aber schon den ersten Lennoxen zu verdanken gewesen war.
Tavie konnte diverse Fragen nicht außer Acht lassen. Was hatte es auf sich mit diesen drei Männern? Wieso war der Erste so unzulänglich und der Zweite so aggressiv, und wieso der Dritte so provokant zauberhaft, so entwaffnend sympathisch und vertrauenerweckend?
Wessen Spiel war das? Waren es Streiche des Schicksals, Ausgeburten eines multidimensionalen Universums, oder gab es irgendwo eine Drillingsfarm?
Nichts davon nahm sie wirklich ernst, obwohl sie einige Möglichkeiten in Betracht gezogen hatte, zum Beispiel dass die ersten beiden Lennoxe nicht real gewesen waren, was jedoch angesichts der Strapazen, sie zu begraben, stark in Zweifel gezogen werden musste.
Der Erste war einfach gestorben, wie eine altersschwache Katze. Der Zweite hatte sich aus Versehen ins Gesicht geschossen.
War dieser neue Lennox einfach nur die goldene Mitte, das schwammige Produkt einer Kompromiss-Philosophie, oder stellte er in Wahrheit die eigentliche Prüfung dar?
Und wenn er ebenfalls plötzlich verstarb?
All diese Gedanken setzten einen gewissen Animismus voraus, einen dahinter steckenden Plan.
Tavie musste einsehen, dass all dieses Spekulieren zu nichts führte, und am Ende nur die Tatsache übrig blieb, dass sie sich von dem neuen Lennox ungeheuer angezogen fühlte.
Und dies schob sich in ihre Mitte.

Lennox spürte, dass Tavie neben ihr lag. Sie berührte ihn nicht, legte sich aber auch nicht demonstrativ an den Rand, um einen größtmöglichen Abstand zu wahren. Er konnte ihren Atem hören und las etwas aus ihm heraus. Denken und Kämpfen. Lennox war sich darüber bewusst, dass er eine Art unvorhergesehenes Phänomen darstellte.
„Bist Du wach?“ fragte sie leise.
„Ja.“
„Hast Du Schmerzen?“
„Nein, es ist gut.“
Sie holte Luft und begann zu erzählen:
„Ich war verheiratet. Gleich nachdem ich mein Voluntariat beendet hatte, entschloss ich mich zu einer festen Bindung, weil ich glaubte, dass ein sicherer Hafen für mich das Beste wäre, um von dort aus an meiner Karriere zu arbeiten.
Ich war nämlich sehr ehrgeizig, musst Du wissen. Die Ehe war so eine Art Anker für mich, und als ich ungewollt schwanger wurde, hat mich das nicht abgehalten, alle beruflichen Chancen wahrzunehmen. Ich kam von einem kleinen Provinzblatt zu einer großen Zeitung in der Stadt und schrieb Artikel über Umweltverschmutzung und politische Skandale. Meine Feder war sehr gefürchtet.
Ich habe es geschafft, zu einem kleinen Teil Mutter und Ehefrau zu sein, aber nicht so, wie es angemessen gewesen wäre, wie man es von mir erwartet hatte. Mein Mann war einfach wunderbar. Er hat mich immer unterstützt und seine eigenen Pläne zurückgestellt. Unser Sohn wuchs heran, und alles schien zu meiner Zufriedenheit. Jeder hat es mir recht gemacht, weil ich die Gabe besaß, meine Interessen als die Interessen aller zu verkaufen.
Schließlich machte ein Gerücht die Runde, nach dem eine große Pharmagesellschaft Experimente mit ahnungslosen Menschen durchführte, also mit Leuten, die sich nicht wehren konnten, weil sie nicht genug Geld hatten, um jemanden zu verklagen. Ich bin der Sache nachgegangen und habe einige sehr brisante Fakten ans Tageslicht gebracht. Ich musste unbedingt an der Sache dran bleiben. Und genau zu diesem Zeitpunkt wurde unser Sohn krank. Leukämie.
Mein Mann kam als Spender nicht infrage. Ich befand mich etwa zweitausend Meilen weit weg und wartete auf das Treffen mit einem wichtigen Informanten, der sich allerdings versteckt hielt. Eine überaus heikle Angelegenheit. Dieser Zeuge hätte den ganzen Konzern in die Knie zwingen können.
Es wurde mir dringend nahegelegt, zurück zu kommen und mein Knochenmark untersuchen zu lassen, aber ich tat es nicht. Ich spielte es herunter und dachte, dass es später noch möglich wäre. Und so schob ich es vor mir her, ganze zwei Monate lang. Natürlich hatte sich mein Mann schon nach meiner ersten Absage von mir distanziert. Doch er flehte immer wieder, ich möge nach Hause kommen und unserem Sohn helfen, aber ich tat es nicht. Die Welt war so lange in Ordnung gewesen, bis diese Sache passierte und etwas von mir abverlangte, das ich nicht geben wollte. Ich hätte nie heiraten und ein Kind bekommen sollen. Und wenn ich es überdenke, habe ich diese natürlichen Muttergefühle nie gehabt. Ich habe auch meinen Mann nicht geliebt. Unser Sohn ist gestorben. Und es war meine Schuld. Ich bin davor nicht weggerannt, aber ich konnte nicht mehr so weitermachen, weil ich plötzlich aufgewacht bin. Zu spät, natürlich. So etwas kann man nicht mit ein paar Therapiestunden und Geständnissen und Selbstanalysen kitten. Das ist unmöglich. Ich musste ganz heraus aus jener Welt. Vielleicht brauchte ich auch eine selbstverordnete Bestrafung.“
„Du bist hieher gezogen, um Dich selbst kennen zu lernen, um herauszufinden, wer Du wirklich bist.“
„Ja, das auch. Und aus Feigheit. Nicht vor den Menschen, die mich für ein Ungeheuer hielten, aber vor der Tatsache, dass ich selbst als dieses Ungeheuer in jener Welt weiterleben sollte.“
„Und wenn alles noch einmal von vorne beginnen würde ...“
„Das ist irrelevant. Mein altes Ich würde wieder denselben Fehler machen, und mein neues würde es gar nicht erst so weit kommen lassen.“
„Und wenn Du Dich nun charakterisieren müsstest ...“
„Ich würde mich nicht beurteilen. Nicht werten. Ich lebe im Jetzt und versuche nur, meiner Gegenwart gerecht zu werden. Es würde mich umbringen, wenn ich den Selbstvorwürfen freien Lauf lassen würde. Es hat keinen Sinn. Ich kann nur alleine mit mir selbst einem gewissen Anspruch gerecht werden.“
„Glaubst Du, Du wirst irgendwann einmal in die Zivilisation zurück kehren?“
„Ich bin meine eigene Zivilisation. Fragt sich die Wüste, wann sie zum Meer wird? Fragt sich ein Berg, ob er lieber ein Tal wäre?“
„Du kannst also nur als eigene Welt existieren.“
„Ja, so ist es.“
„Ich bedaure Dich nicht. Und ich verurteile Dich auch nicht. Es ist furchtbar, was da geschehen ist, aber mir erscheint es sinnlos, es erneut in die Waagschale zu werfen. Ich weiß nur, dass Du mein Bein verbunden und mir Unterschlupf gegeben hast.“
Lennox schwieg nun.
Tavie drehte sich zu ihm und berührte seine Wange.
Er schaute sie an.
„Ich werde nun schlafen, mein netter Besucher ...“
„Gut, schlafen wir.“
Tavie wollte ihm nah sein, wollte wissen, wer oder was er war. Doch sie wusste, dass er ihr keine Antworten geben konnte, die über das Reale hinaus gingen. Doch bevor er wieder einschlief, sagte sie ihm ganz ungefiltert und ohne Vernunft:
„Ich liebe Dich.“
Er drehte seinen Kopf zu ihr und sagte gerührt:
„Nun lässt Du mich wieder glauben, dass dies ein Traum ist.“
„Also gut, dann träumen wir halt ...“


Nächster Teil Freitag, 20.06.2014


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