Tavie lächelte,
ohne dass Lennox es sehen konnte. Sie kam mit einem großen Teller
mit Kartoffeln, geschmolzenem Käse, Brot, Paprika, Peperoni und
Quark vor den Kamin.
„Das sieht ja
herrlich aus ...“
„Ich horte immer
sehr viel Käse, weil ich selbst keinen machen kann.“
„Im Winter ist so
ein Essen Gold wert, auch wegen des Vitamin C bei der Paprika und den
Peperoni.“
„Ist Dir warm
genug?“
„Ja, es ist sehr
angenehm.“
„Wie geht es
Deinem Bein?“
„Es tut weh, aber
nicht so schlimm.“
„Nun iss. Alles
wird wieder gut. Du wirst gesund, und dann kehrst Du zurück in Dein
Dorf.“
Lennox stöhnte bei
dem Gedanken.
Beide aßen und
sagten vorerst nichts. Nach dem Mahl entschloss sich Tavie, Lennox'
Verband zu wechseln. Diesmal war es anders. Nach dem Gespräch bekam
das Verarzten des Beines eine intimere Note, mit der sich Lennox und
Tavie vertraut machen mussten. Tavie wusste bereits, dass es zwischen
den Beiden eine Verbindung gab, eine Verwandtschaft, doch im
Gegensatz zu ihrer Offenheit, die sie zuerst an den Tag gelegt hatte,
spürte sie nun ihre eigene Verschlossenheit, und das gefiel ihr
nicht. Umso mehr berührte es sie, dass Lennox sie nicht weiter
löcherte.
„Du legst Dich
jetzt ins Bett.“ sagte sie mütterlich.
„Also gut.“
„Kannst Du
aufstehen?“
Sie half ihm.
Ächzend nahm er auf ihrem Bett Platz. Er roch ihren Geruch in den
Laken.
„Ich kann Dir doch
nicht einfach Dein Bett wegnehmen.“
„Hab keine Sorge,
da ist ja noch die Couch. Aber sollte ich unbedingt im Bett schlafen
wollen, lege ich mich zu Dir.“
Lennox war
überrascht. Tavies Ton hatte überhaupt nichts Anzügliches, nur
etwas Pragmatisches und Vertrautes. Er legte sich lang und sagte:
„Normalerweise
wäre es mir etwas peinlich, im Bett einer fremden Person zu liegen,
aber in diesem Fall pfeife ich auf meine Komplexe.“
Tavie musste lachen,
sagte aber dann, mit ernsterem Ton:
„Du weißt genau,
dass wir beide keine Fremden füreinander sind.“
„Ja, das habe ich
sofort gemerkt. Irgendwie ist da dieses Gefühl dass ich Dich schon
kenne, aber ich weiß nicht woher. Ich könnte nun wieder
irgendwelchen Träumen die Schuld geben ...“
„Träumst Du oft
davon, dass Du ein Anderer bist?“
„Das kann
vorkommen. Aber ich finde es meist überflüssig, so etwas zu
träumen. Und Du?“
„Nein, ich träume
anders. Und wie bist Du in Deinen Träumen?“
„Manchmal offener,
aber manchmal auch noch viel verschlossener als in Wirklichkeit.
Manchmal forsch, manchmal verängstigt.“
„Und kennst Du
diese Träume, an die man sich erst erinnert, wenn man im Wachzustand
einen Hinweis auf sie erhält? Dass man glaubt, das Erlebte schon
einmal in einem Traum gesehen zu haben?“
„Das kenne ich.
Aber diese Situation hier habe ich nicht geträumt. Doch um ehrlich
zu sein, habe ich mir immer so einen Ort gewünscht. Und deshalb
hielt ich es zuerst für einen Traum, hier angekommen zu sein.“
„Schlaf jetzt ein
bisschen.“
„Na gut, ich
gehorche.“
Tavie saß vor dem
Feuer und drehte sich eine Zigarette. Selten während der letzten
vier Jahre war sie so durcheinander gewesen. Sie schwankte zwischen
Öffnung und Verschlossenheit und befand sich jenseits ihrer Mitte,
was aber schon den ersten Lennoxen zu verdanken gewesen war.
Tavie konnte diverse
Fragen nicht außer Acht lassen. Was hatte es auf sich mit diesen
drei Männern? Wieso war der Erste so unzulänglich und der Zweite so
aggressiv, und wieso der Dritte so provokant zauberhaft, so
entwaffnend sympathisch und vertrauenerweckend?
Wessen Spiel war
das? Waren es Streiche des Schicksals, Ausgeburten eines
multidimensionalen Universums, oder gab es irgendwo eine
Drillingsfarm?
Nichts davon nahm
sie wirklich ernst, obwohl sie einige Möglichkeiten in Betracht
gezogen hatte, zum Beispiel dass die ersten beiden Lennoxe nicht real
gewesen waren, was jedoch angesichts der Strapazen, sie zu begraben,
stark in Zweifel gezogen werden musste.
Der Erste war
einfach gestorben, wie eine altersschwache Katze. Der Zweite hatte
sich aus Versehen ins Gesicht geschossen.
War dieser neue
Lennox einfach nur die goldene Mitte, das schwammige Produkt einer
Kompromiss-Philosophie, oder stellte er in Wahrheit die eigentliche
Prüfung dar?
Und wenn er
ebenfalls plötzlich verstarb?
All diese Gedanken
setzten einen gewissen Animismus voraus, einen dahinter steckenden
Plan.
Tavie musste
einsehen, dass all dieses Spekulieren zu nichts führte, und am Ende
nur die Tatsache übrig blieb, dass sie sich von dem neuen Lennox
ungeheuer angezogen fühlte.
Und dies schob sich
in ihre Mitte.
Lennox spürte, dass
Tavie neben ihr lag. Sie berührte ihn nicht, legte sich aber auch
nicht demonstrativ an den Rand, um einen größtmöglichen Abstand zu
wahren. Er konnte ihren Atem hören und las etwas aus ihm heraus.
Denken und Kämpfen. Lennox war sich darüber bewusst, dass er eine
Art unvorhergesehenes Phänomen darstellte.
„Bist Du wach?“
fragte sie leise.
„Ja.“
„Hast Du
Schmerzen?“
„Nein, es ist
gut.“
Sie holte Luft und
begann zu erzählen:
„Ich war
verheiratet. Gleich nachdem ich mein Voluntariat beendet hatte,
entschloss ich mich zu einer festen Bindung, weil ich glaubte, dass
ein sicherer Hafen für mich das Beste wäre, um von dort aus an
meiner Karriere zu arbeiten.
Ich war nämlich
sehr ehrgeizig, musst Du wissen. Die Ehe war so eine Art Anker für
mich, und als ich ungewollt schwanger wurde, hat mich das nicht
abgehalten, alle beruflichen Chancen wahrzunehmen. Ich kam von einem
kleinen Provinzblatt zu einer großen Zeitung in der Stadt und
schrieb Artikel über Umweltverschmutzung und politische Skandale.
Meine Feder war sehr gefürchtet.
Ich habe es
geschafft, zu einem kleinen Teil Mutter und Ehefrau zu sein, aber
nicht so, wie es angemessen gewesen wäre, wie man es von mir
erwartet hatte. Mein Mann war einfach wunderbar. Er hat mich immer
unterstützt und seine eigenen Pläne zurückgestellt. Unser Sohn
wuchs heran, und alles schien zu meiner Zufriedenheit. Jeder hat es
mir recht gemacht, weil ich die Gabe besaß, meine Interessen als die
Interessen aller zu verkaufen.
Schließlich machte
ein Gerücht die Runde, nach dem eine große Pharmagesellschaft
Experimente mit ahnungslosen Menschen durchführte, also mit Leuten,
die sich nicht wehren konnten, weil sie nicht genug Geld hatten, um
jemanden zu verklagen. Ich bin der Sache nachgegangen und habe einige
sehr brisante Fakten ans Tageslicht gebracht. Ich musste unbedingt an
der Sache dran bleiben. Und genau zu diesem Zeitpunkt wurde unser
Sohn krank. Leukämie.
Mein Mann kam als
Spender nicht infrage. Ich befand mich etwa zweitausend Meilen weit
weg und wartete auf das Treffen mit einem wichtigen Informanten, der
sich allerdings versteckt hielt. Eine überaus heikle Angelegenheit.
Dieser Zeuge hätte den ganzen Konzern in die Knie zwingen können.
Es wurde mir
dringend nahegelegt, zurück zu kommen und mein Knochenmark
untersuchen zu lassen, aber ich tat es nicht. Ich spielte es herunter
und dachte, dass es später noch möglich wäre. Und so schob ich es
vor mir her, ganze zwei Monate lang. Natürlich hatte sich mein Mann
schon nach meiner ersten Absage von mir distanziert. Doch er flehte
immer wieder, ich möge nach Hause kommen und unserem Sohn helfen,
aber ich tat es nicht. Die Welt war so lange in Ordnung gewesen, bis
diese Sache passierte und etwas von mir abverlangte, das ich nicht
geben wollte. Ich hätte nie heiraten und ein Kind bekommen sollen.
Und wenn ich es überdenke, habe ich diese natürlichen Muttergefühle
nie gehabt. Ich habe auch meinen Mann nicht geliebt. Unser Sohn ist
gestorben. Und es war meine Schuld. Ich bin davor nicht weggerannt,
aber ich konnte nicht mehr so weitermachen, weil ich plötzlich
aufgewacht bin. Zu spät, natürlich. So etwas kann man nicht mit ein
paar Therapiestunden und Geständnissen und Selbstanalysen kitten.
Das ist unmöglich. Ich musste ganz heraus aus jener Welt. Vielleicht
brauchte ich auch eine selbstverordnete Bestrafung.“
„Du bist hieher
gezogen, um Dich selbst kennen zu lernen, um herauszufinden, wer Du
wirklich bist.“
„Ja, das auch. Und
aus Feigheit. Nicht vor den Menschen, die mich für ein Ungeheuer
hielten, aber vor der Tatsache, dass ich selbst als dieses Ungeheuer
in jener Welt weiterleben sollte.“
„Und wenn alles
noch einmal von vorne beginnen würde ...“
„Das ist
irrelevant. Mein altes Ich würde wieder denselben Fehler machen, und
mein neues würde es gar nicht erst so weit kommen lassen.“
„Und wenn Du Dich
nun charakterisieren müsstest ...“
„Ich würde mich
nicht beurteilen. Nicht werten. Ich lebe im Jetzt und versuche nur,
meiner Gegenwart gerecht zu werden. Es würde mich umbringen, wenn
ich den Selbstvorwürfen freien Lauf lassen würde. Es hat keinen
Sinn. Ich kann nur alleine mit mir selbst einem gewissen Anspruch
gerecht werden.“
„Glaubst Du, Du
wirst irgendwann einmal in die Zivilisation zurück kehren?“
„Ich bin meine
eigene Zivilisation. Fragt sich die Wüste, wann sie zum Meer wird?
Fragt sich ein Berg, ob er lieber ein Tal wäre?“
„Du kannst also
nur als eigene Welt existieren.“
„Ja, so ist es.“
„Ich bedaure Dich
nicht. Und ich verurteile Dich auch nicht. Es ist furchtbar, was da
geschehen ist, aber mir erscheint es sinnlos, es erneut in die
Waagschale zu werfen. Ich weiß nur, dass Du mein Bein verbunden und
mir Unterschlupf gegeben hast.“
Lennox schwieg nun.
Tavie drehte sich zu
ihm und berührte seine Wange.
Er schaute sie an.
„Ich werde nun
schlafen, mein netter Besucher ...“
„Gut, schlafen
wir.“
Tavie wollte ihm nah
sein, wollte wissen, wer oder was er war. Doch sie wusste, dass er
ihr keine Antworten geben konnte, die über das Reale hinaus gingen.
Doch bevor er wieder einschlief, sagte sie ihm ganz ungefiltert und
ohne Vernunft:
„Ich liebe Dich.“
Er drehte seinen
Kopf zu ihr und sagte gerührt:
„Nun lässt Du
mich wieder glauben, dass dies ein Traum ist.“
„Also gut, dann
träumen wir halt ...“
Nächster Teil Freitag, 20.06.2014
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