Donnerstag, 26. Juni 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen – Teil IX



Zusammen im Bett wurden alle Fragen verbrannt und allem getrotzt, was als Mysterien diesseits oder jenseits des Sees herumschwirrte.
Sich ganz dem Anderen und dem Wir zu widmen, wurde zu einer Rebellion, eine Beweisführung für den freien Willen.
Tavie und Lennox liebten sich hingebungsvoll und ohne Worte, sprachen nur durch Berührungen und Blicke, und durch ihre Körper.
Der Winter schickte ein wildes Schneegestöber über das Haus. Der See bibberte, die weißen Wipfel standen starr und vereist. Im Innern der Holzhauses wohnte die Wärme, so wie sie sich selbst am liebsten sah. Die Wärme zweier Leiber und Seelen, sich erhaltend und beschützend und Wonne schenkend. Das Innere des Hauses war nicht mehr und nicht weniger als ein Fleck in einer Ödnis, eine kleine Unebenheit in der Savanne und ein kleiner Stern in der Schwärze. Es war der Kontrast, der der Welt einen Ausdruck gab, der ein Gesicht zum Lächeln oder zum Weinen, der es wiedererkennbar machte.
Die Fensterläden blieben verschlossen, der Kamin glühte, und die Balken knarrten im Wind.
In den Laken blieb alles geschützt und miteinander verwoben. Ein Knäuel des Guten, wenn auch nur aus der Sicht der beiden Menschen, ohne eine Maxime zu sein.
Der Schlaf versiegelte alles. Er dauerte sehr lang und war nicht nur Schlaf, sondern auch Beharren, wie das Graben eines Loches oder die Errichtung eines Turms. Ehern und von Menschenhand gemacht. Bewusst und voll von Selbstverständnis.
Lennox wusste nicht, ob es Nacht oder Tag war, als er die Augen aufschlug.
Ihm fiel sofort auf, dass der so vertraute Herzschlag, dieser liebliche Atem dicht bei ihm, nicht mehr zu hören und zu spüren war.
Tavie lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, und sie war nicht mehr am Leben.
Er sah sie nur an. Es war nicht nötig, ihre Vitalzeichen zu überprüfen. Lennox lehnte es ab, zu verstehen, was geschehen war. Er blickte in einen grässlichen Abgrund, aus dem eine namenlose Stimme herausflüsterte und sagte, dass nichts selbstbestimmt sein konnte, dass es alles gestaltet und geplant wurde. Nah am Wahnsinn schloss er Tavies Körper in seine Arme. Blitze des Irrsinns zermürbten ihn, scharf und gleichzeitig schwer wie Felsblöcke.
Er wickelte ihren Körper vorsichtig ein, von Kopf bis Fuß. Mechanisch hob er sie auf seine Arme und trug sie hinaus auf den Steg. Das Boot war völlig verschneit, aber das spielte keine Rolle. Er legte Tavie hinein und stieß das Boot mit der Stange auf den See hinaus.
Lange saß er dort und sah zu, wie das Boot langsam aus seinem Sichtfeld verschwand, so als würde es gezogen werden. Lennox schaute gen Himmel, als könnte er dort diese Kraft finden, die alles lenkte, die ihn und Tavie zusammengeführt und getrennt hatte.
Als er fast erfroren war, schleppte er sich zum Haus zurück, das nun ihm gehörte. Ein Tausch hatte stattgefunden. Lennox konnte das alles nicht in seiner Ganzheit fassen, das Erleben und die neue Einsamkeit, die er gut genug kannte, von früher.
Innerlich vollkommen taub, setzte er sich und nahm sich ein Buch, das irgendwo herumlag. Lennox konnte nicht nachdenken, und wenn er ein Gefühl zuließ, hätte es ihn zerstören können. Er sah die Pistole neben dem Kamin liegen. Er nahm sie und legte sie vor sich auf den Tisch. Er konnte sie jederzeit benutzen. Doch zunächst las er das Buch, eine amüsante Geschichte um Eifersucht und Betrug. Er konnte Tavie überall an sich riechen, und es liefen Tränen über sein Gesicht. Er kochte sich einen Tee, zog sich einen von Tavies Pullovern an, legte Feuer nach und spielte weiter. Das Spiel des Daseins. Er spielte atmen und trinken, essen und gehen und sitzen und denken.
Es verging ein Tag, und danach noch einer. Eine Woche flog vorbei, und ein neuer Monat begann.
Es wurde irgendwann milder. Der Schnee verschwand.
Lennox kümmerte sich um den Gemüsegarten und legte neue Fallen aus. Ihm war es egal, ob er nun ersatzweise Tavies Leben lebte oder sein eigenes in einer anderen Form. Er ertappte sich dabei, wie er sich von Tavie erholte. Das hieß nicht, dass er irgendeine neue Hoffnung aufkeimen ließ, er hatte nur begonnen, eine neue Kälte in sich selbst zuzulassen. Wenn er ehrlich war, dann musste er zugeben, das Absolute erfahren zu haben, für eine sehr kurze Zeit. Doch von der Intensität konnte er lange zehren, und wenn er tatsächlich glaubte, alles sei fremdgesteuert, müsste er vielleicht jemandem danken.
Lennox hatte zu angeln begonnen und verbuchte dabei sogar einigen Erfolg.
Er konnte auch schnitzen und fertigte einige lustige Figuren an, die er um das Haus herum stellte.
Eine davon sah aus wie ein kleines Skelett, finster schauend, wie aus einem Gruselfilm.
Es stand direkt auf einem der Pflöcke des Stegs. Als Lennox gerade im Haus einen Hasen ausnahm, erblickte das hölzerne Skelett ein Boot, das aus den Weiten des Sees auf den Steg zuhielt.

ENDE


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