Donnerstag, 5. Juni 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen – Teil VI



Beim ersten Lennox und seiner Hilflosigkeit dachte sie für fünf Sekunden, dass er ihr gefallen könnte, und selbst bei dem zweiten hatte sie es gedacht, aber nur für eine halbe Sekunde. Bei diesem, welcher genauso viel oder so wenig echt war wie die anderen, hatte sie das Gefühl die ganze Zeit über. Er hatte sie sofort auf die Bilder an den Wänden angesprochen und sich Anteil nehmend gezeigt, ohne aufdringlich zu sein. Er hatte an sie gedacht. Der Erste hatte zwar auch nach ihrem Leben gefragt, aber nur um es abzuhaken, nur aus kurioser Neugier heraus.
Tavie stellte fest, dass Menschen, die einem anderen Menschen begegneten, der ihnen sympathisch war, immer an der Echtheit zweifelten. Zu oft waren sie enttäuscht oder hinters Licht geführt worden, zu oft war der schöne erste Schein nach kurzer Zeit abgeblättert.
Gefragt zu werden, ob man real war, konnte ein schönes Kompliment sein.
Tavie betrachtete den neuen Lennox, der nun friedlich schlief. Es war verblüffend, dass er, obwohl er genauso aussah wie die vorigen beiden, eine ganz andere Ausstrahlung besaß. Etwas an ihm bewies die Existenz einer Persönlichkeit, und man fühlte sich wohl in seiner Gegenwart.
Nun fragte sich Tavie, ob er auch solche törichten Überfälle verübt hatte wie der erste Lennox, vom zweiten ganz zu schweigen, von dessen Taten sie nichts erfahren hatte, die sie sich jedoch ausmalen konnte.
Es fiel ihr sehr schwer, sich vorzustellen, dass dieser neue Lennox etwas Böses getan hatte. Und nun ging ihr auf, dass ihr das auf einmal wichtig geworden war.

Sie ging noch nicht zu Bett, lag auf dem Sofa und las. Irgendwann, als die Nacht schon alt und das Feuer im Kamin nur noch Glut war, wachte Lennox auf.
„Es war also kein Traum. Ich bin tatsächlich hier.“
„Ja, das bist Du.“
„Entschuldige, aber hast Du vielleicht etwas zu trinken, mein Kehle ist wie ausgetrocknet.“
„Oh entschuldige, natürlich.“
Tavie holte den Scotch. Und nachdem Lennox seine Füße wieder auf den Boden gestellt hatte, setzte sich Tavie auf den Sessel ihm gegenüber. Sie warf noch einen Scheit Holz in den Kamin und goss zwei Gläser ein.
„Ich denke ich sollte Dir jetzt mal erzählen, was es mit meiner Flucht auf sich hat. Das bin ich Dir schuldig.“
„Nein, nicht schuldig, aber ich muss zugeben, neugierig geworden zu sein.“
„Also gut, dann werde ich mal beichten. Du musst wissen, dass ich niemanden bedroht habe. Und ich habe genaugenommen auch kein Verbrechen begangen. Drüben auf der anderen Seite, Millionen gefühlter Meilen von hier entfernt, wohnte ich in einem kleinen Dorf am Ufer des Sees, und in den letzten zwei Jahren hat sich dieser Ort zu einem Tourismusmagneten gemausert, weil eine Sängerin, die über Nacht ein großer Star geworden ist, dort geboren wurde. Sie hat dort nicht mal ihre Kindheit verbracht, nur geboren wurde sie dort. Du musst wissen, dass ich ein Einzelkind bin, und früher, als ich noch ein Junge war, nur sehr wenige Freunde gehabt habe, weil ich keine anderen Kinder mochte. Und ich mochte auch keine Erwachsenen. Leider hat sich das nicht gebessert, als ich selbst erwachsen wurde. Ich habe nie viele Menschen um mich herum ertragen. Ich empfand es als äußerst beklemmend, mich in Restaurants oder auf Veranstaltungen aufzuhalten.
Jedenfalls wurde die Tatsache, dass unser Ort plötzlich so überlaufen war, für mich zu einem reinen Horrorszenario. Vorher war es immer ruhig gewesen, und ich habe jeden im Dorf gekannt. Ich habe keine wirkliche Angst vor Menschen, aber sie sind mir einfach unangenehm. Ich hasse sie nicht, aber es geht mir besser, wenn keine in der Nähe sind.
Es hört sich sehr schlimm und bösartig an, wenn ich das so sage, aber viele Menschen sind für mich schlimmer als eine Badewanne voller Kakerlaken. Schlimmer als ein Schiffsdeck voller Ratten, schlimmer als in einem Terrarium voller Giftschlangen zu stehen. Ich musste zu einem Arzt, einem Seelenklempner, aber der gab mir nur solche blödsinnigen Konfrontationsaufgaben auf. Ich sollte mich dem Problem stellen und nicht davor weglaufen. Nun, ich wollte nicht, dass meine Abneigung verschwindet, sondern dass die Menschen verschwinden. Ich wollte mich nicht verändern, verstehst Du? Diese Eigenart ist genau das, was sie ist. Sie ist mir eigen. Ich bin weder stolz darauf, noch halte ich sie für eine Tugend, sie ist einfach ein maßgeblicher Teil meiner Persönlichkeit. Aber ein Arzt, oder auch die Gesellschaft, will, dass man sich ändert, dass man sich angleicht, und das wollte ich nicht. Jeden Tag Hunderte, Tausende von Menschen in unserem Kaff. Man konnte nirgends mehr hingehen, ohne sich durch einen Schlamm aus Homo Sapiens drängen zu müssen. Und es ist nur logisch, dass man sich inmitten dieses Chaos einsamer fühlt, als wäre man der einzige Mensch auf der Welt. Ich war wirklich am Durchdrehen, Tavie ...“
Indem er ihren Namen sagte, so mitten in seiner Erzählung, erzeugte bei ihr eine ungeheuer starke Rührung. Ergriffen fragte sie:
„Und was hast Du dann getan?“
„Eine sehr kurze Zeit habe ich tatsächlich versucht, damit klar zu kommen. Doch je länger dieser Andrang dauerte, desto schlimmer wurde es mit mir. Und ja, ich hatte die Idee, mir das Leben zu nehmen.“
„Konntest Du nicht einfach fortgehen?“
„Ich hätte meine Heimat aufgeben müssen. Und woanders wäre ich auf dasselbe Problem gestoßen. Ich hätte mir einen einsamen Ort suchen sollen, aber dazu fehlte mir die Kraft.“
„Was hast Du denn gearbeitet?“
„Ich habe Bücher übersetzt. Ein Job, den man ganz alleine tut. Na jedenfalls habe ich mir diese Pistole besorgt, von einem Bekannten. Und eines Abends habe ich sie mit mir herumgetragen, bin dann mit einer Flasche Scotch am Ufer gelandet und habe mich betrunken. Ich wollte mir den Mut antrinken, mir das Leben zu nehmen.
Frag mich jetzt nicht, wie es genau passiert ist, denn ich war stockbesoffen. Aber ich denke ich habe mir selbst ins Bein geschossen und bin in dieses Boot gefallen.
Stunden später bin ich aufgewacht und befand mich schon mitten auf dem See. Ich sah überhaupt kein Land mehr … Und deshalb dachte ich auch, dass ich träume, als ich dieses einsame Haus sah. Und Dich. Ich dachte, es kann nicht wahr sein, dass mir etwas begegnet, was ich mir tief im Innern ersehnt hatte. Nur einen Menschen, und die Einsamkeit, die Stille ...“
Tavie sagte nichts, sondern sah ihn nur an. Er wirkte leicht euphorisch und fragte:
„Ist es bei Dir auch so? Dass Du hierher gezogen bist, weil Du keine Menschen erträgst?“
„Wir haben sehr viel gemeinsam, Lennox. Aber aus diesem Grund bin ich nicht hier. Sag, möchtest Du Dich hinlegen? Mein Bett steht dort hinten.“
„Dein Bett? Und wo schläfst Du?“
„Vielleicht schlafe ich überhaupt nicht.“
„Hältst Du mich jetzt für bescheuert, weil ich so eine Macke habe?“
„Nein. Ganz und gar nicht. Hast Du Hunger?“
„Um ehrlich zu sein, ja.“
„Ich auch. Ich mache uns ein wenig Brot und Käse warm.“
Lennox spürte, das Tavie ein wenig aufgewühlt war von seiner Erzählung. Sie kämpfte mit etwas, aber vielleicht wusste sie selbst nicht, mit was.
Lennox machte sich nützlich und bearbeitete das Kaminfeuer.
„Ich hatte bei mir zu Hause auch einen Kamin. Und ich hatte auch viele Bilder an den Wänden, aber von Orten, an denen ich noch nie war. Ich bin nicht so viel herumgekommen.“
„Was für Bücher hast Du denn übersetzt?“ fragte Tavie, während sie den Ofen wärmte und den Käse schnitt.
„Alle möglichen. Romane, Reiseberichte, Geschichtsbücher.“
„Hast Du nie darüber nachgedacht, selbst etwas zu schreiben?“
„Ich schreibe ja selbst. Aber ich habe es nie jemandem gezeigt.“
„Das ist schade.“
„Und Du, was hast oder hattest Du für einen Beruf?“
Tavie antwortete kühl:
„Journalistin.“
Lennox war verblüfft. Das hatte er nicht erwartet. Er spürte jedoch, dass ihr das Thema unangenehm war,
„Nun, dann haben wir etwas gemeinsam. Wir beide schreiben, auf die eine oder andere Art.“
„Oh, hier sind ja noch Kartoffeln, die mache ich auch warm. Das ist gut, Käse und Kartoffeln.“
Lennox sah auf Tavies Schreibtisch jede Menge Papier und Bücher. Sie hatte ihn nach dem Schreiben gefragt, aber wenn es um sie ging, wollte sich nicht darüber sprechen. Er war nicht der Typ, der unangenehm insistierte, also verlegte er sich darauf, auf sie einzugehen:
„Eine Freundin, ein Freund und ich haben immer zu gewissen Anlässen Raclette gemacht.“
„Aha, also hattest Du Freunde ...“
„Ja, wenige. Eine Frau und zwei Männer. Die haben mich akzeptiert, und immer wenn irgendwelche größeren Feste anstanden, vermieden sie es, mich einzuladen. Das war sehr rücksichtsvoll.“
„Und die Frau war auch Deine Freundin?“
„Ja, das war sie, aber nicht sehr lange. Sie hat es nicht ausgehalten mit einem Mann, der nie unter Leute geht. Es gab ein Lokal, das ich gerne besucht habe, aber mehr auch nicht. Und manchmal konnte ich auch ins Kino gehen. Und das wurde ihr mit der Zeit zu eintönig. Doch wir blieben Freunde. Sie ist jetzt verheiratet und hat eine Tochter. Der Mann ist Polizist.“
Lennox musste darüber lachen. Tavie fragte:
„Ist das so komisch?“
„Ja, das ist es. Polizisten haben ja viel mit Menschen zu tun ...“
Tavie lachte mit. Dann fragte Lennox:
„Aber ich vermute, Dir ist es unangenehm, über Deine Vergangenheit zu sprechen, oder? Du wolltest sie endgültig hinter Dir lassen.“
„Die Vergangenheit ist sowieso hinter mir, ganz automatisch.“
„Wenn Du Dir dieser Sache tatsächlich so sicher bist, wärst Du kaum hierher gezogen. Du wolltest nichts mehr mit all den Dingen zu tun haben, die in Dir Erinnerungen wach rufen.“
„Die Erinnerung ist in mir drin. Und ich bin vor nichts davon gelaufen. Ich habe nur etwas verändert.“
„Aber dafür gab es einen ganz bestimmten Grund.“
„Das kann ich nicht leugnen.“
Lennox sah, dass Tavie bei dem Thema ein wenig ungehaltener wurde. Er wollte nicht aufdringlich sein und stellte keine weitere Frage. Tavie hingegen sagte:
„Für jemanden, der so wenig mit Menschen zu tun hat, besitzt Du ganz schön viel Empathie und Neugierde.“
„Schließt das eine das andere aus? Ich interessiere mich für bestimmte Menschen, aber ich muss nicht zwingend in ihrer Nähe sein.“
„Tja, nun bist Du in der unglücklichen Lage, Dich in der Nähe eines anderen Menschen zu befinden. Sei vorsichtig, so etwas kann Folgen haben ...“

„Du weißt, dass ich jetzt sagen muss, dass es für mich ganz und gar kein Unglück ist, hier zu sein. Ich habe das Gefühl, dass wir beide einander verstehen, und das erlebe ich sehr selten. Es ist sehr schön.“


Nächster Teil Freitag, 13.06.2014


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