Lennox erwachte mit
einer unerwarteten Frische.
Neben ihm lag Tavie,
friedlich schlummernd und glücklich aussehend, als ob sie mit einem
Gefühl der absoluten Geborgenheit eingeschlafen wäre.
Lennox küsste sie
auf die Wange, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob sie das
guthieße oder nicht. Sie schlug die Augen auf.
„Du bist noch da!“
sagte sie, so als ob sie etwas anderes erwartet hatte.
„Und Du auch.“
„Wir träumen
nicht, oder?“
„Nein, aber wenn
doch, ist es egal.“
Nun küssten sie
sich mit beiderseitigem Einverständnis. Und nichts war schöner als
dieser Kuss, dieses Beschließen.
Mit größter
Behutsamkeit liebkosten sie sich, waren verwirrt, entzückt und auch
überfordert wie Kinder.
„Ich muss Dir
unbedingt etwas zeigen.“ sagte Tavie. „Ich muss es. Wenn ich
damit warte, platze ich.“
„Was kann das
sein?“
„Es wird Dich sehr
verwirren. Vielleicht wirst Du darüber an der Welt, so wie Du sie
kennst, zweifeln.“
„So ungeheuerlich
ist es?“
„Ja, in der Tat.
Ich muss das tun, bevor ich mich Dir mit Haut und Haaren hingebe.“
„Also gut. Wenn
das die Bedingung ist, dann nehme ich es in Kauf.“
„Aber Du musst
dafür ganz offen sein. Für alles. Für etwas, das Du für undenkbar
gehalten hast.“
„Jetzt machst Du
mir Angst.“
Tavie half Lennox
auf die Beine, worauf er sie umarmen wollte, doch sie hielt ihn davon
ab.
„Noch nicht,
Liebster. Bitte folge mir. Kannst Du gehen?“
„Ja, ich denke
schon.“
Tavie nahm einen
Spaten mit. Lennox wunderte sich darüber, aber er sagte nichts.
Zunächst durfte er ihren Gemüsegarten bewundern, bevor er ihr zum
Wald folgte.
An der bewussten
Stelle gebot sie ihm zu warten. Sechs Monate waren seit dem zweiten
und ein ganzes Jahr nach dem ersten Lennox vergangen, doch sie wusste
noch genau, wo sie vergraben waren und wie sie gelegen hatten.
Sie grub an der
Stelle des Ersten.
„Du hast etwas
vergraben? Einen Schatz?“
„Nicht ganz,
obwohl man aus einer gewissen Sichtweise aus sagen könnte, dass es
einen Wert hat, auf eine verrückte Weise.“
Lennox starrte auf
einen Totenschädel.
„Großer Gott …
Wer ist das?“
Tavie beugte sich
herunter. Sie schaufelte die Kleidung des Toten frei.
„Der trägt ja
meine Jacke!“ sagte Lennox.
„Nicht nur das. Er
ist Du. Der erste Lennox, der mich mit einem Boot gefunden hat.“
„Der erste?“
Tavie machte sich
daran, den Zweiten freizulegen. Ein weiterer Totenschädel schaute
aus dem winterlichen Erdreich heraus. Und auch hier zeigte Tavie dem
lebenden Lennox die identische Jacke.
„Zwei Männer,
genau wie Du. Sie sahen genauso aus, trugen dasselbe, aber sie waren
grundverschieden zueinander, und Du bist zu beiden grundverschieden.“
Er sah auf die
beiden Skelette, die nebeneinander lagen. Gruselige Beweise für
etwas Unerklärliches.
„Sie haben genauso
ausgesehen wie ich? Unverwechselbar? Und was ist mit ihnen
geschehen?“
„Einer ist
gestorben, als er ausruhte, der andere hat sich versehentlich selbst
erschossen. Er war gemeingefährlich.“
„Gemeingefährlich?
Und hast Du jedem von diesen Männern auch gesagt, was Du mir gesagt
hast? Haben sie mit Dir im Bett geschlafen?“
„Nein, nur Du. Mir
kommt es vor, als seien diese beiden Männer nur so etwas wie
fehlerhafte Vorentwürfe gewesen, wie als wenn man einen
Versuchsballon startet, und noch einen, und beide stürzen ab. Der
Dritte fliegt.“
„Und über diese
Spekulation hinaus hast Du keine Erklärung dafür?“
„Ich wünschte ich
hätte eine. Aber vielleicht wärst Du ohne diese beiden Anderen
nicht möglich.“
„Schaue ich in die
schwarzen Augenhöhlen von schlechten Kopien von mir? Sind das Klone
oder verschollene Drillingsbrüder? Oder bin ich das selbst?“
„Lennox, ich weiß
dass Du nicht diese beiden Männer bist. Du bist der Echte, der
Lebende.“
„Aber alle guten
Dinge sind drei. Was ist, wenn auch ich plötzlich sterbe?“
„Ja, alle guten
Dinge sind drei. Und Du bist der Dritte, der, der es gut macht. Der
gut ist.“
„Es ist nicht
gerade ein erhebendes Gefühl, wenn man damit konfrontiert wird, dass
man nicht einzigartig ist.“
„Ich wusste dass
Du das sagen würdest. Doch Du bist einzigartig. Ich denke, das ist
die Lehre, die man daraus ziehen muss.“
„Wie haben diese
beiden Männer gelebt? Wer vermisst sie? Wo sind ihre Familien?“
„Niemand hat je
nach ihnen gefragt. Sie sind aus einer unbekannten Welt hier herüber
geglitten, vielleicht bist Du das auch. Vielleicht gibt es, wenn man
es von dieser Seite des Sees betrachtet, Dein Dorf gar nicht.
Vielleicht ist der See eine Grenze nicht nur zwischen zwei Ländern,
sondern zwischen vielen Möglichkeiten. Und vielleicht bin ich selbst
eine Ursache dafür, was an diesem Steg landet.“
„Du meinst ich bin
von Dir hergewünscht worden?“
„Nicht direkt.
Vielleicht gibt es eine unbekannte Kraft, die von uns ausgeht und
sich auf eine unberechenbare Art manifestiert.“
„Ich kann Dir nur
sagen, dass ich gute Erinnerungen an mein Leben habe. Ich weiß, dass
es Wirklichkeit war.“
„Das war es auch,
aber hier ist es nur Erinnerung. Es ist nicht mehr mit Händen zu
greifen. Nicht mehr zurück zu verfolgen.“
„Also sind wir
beide das Einzige, was wichtig ist?“
„Ja.“
„Okay, dann
schaufeln wir diese beiden Brüder wieder zu. Friede ihrer Asche.“
Lennox half ihr, die
Gräber für immer zu schließen.
Tavie fiel auf, dass
er seltsam still geworden war. Diese Präsentation der Leichen seiner
beiden Doubles hatte ihn verstört, und das konnte sie ihm nicht
verdenken.
Im Haus kochte Tavie
einen Tee, während Lennox das Foto von Tavies Mann und Sohn
betrachtete.
Es gab einen
unzulänglichen und einen bösen Lennox. Beide hatte sie überlebt.
Vielleicht hatte
Tavie recht. Es schien alles stimmig zu sein, aber Lennox fühlte
sich mit dem Gedanken unwohl, dass er eine Art geglücktes Experiment
des Schicksals und fremdgesteuert hierher gebracht worden war. Ihm
missfiel die Vorstellung, keinen eigenen Willen zu haben. Doch bei
näherer Betrachtung musste er eingestehen, dass er sich ohne seinen
Willen ins Bein geschossen hatte und das Boot ohne sein Zutun
hinausgetrieben war. Er hatte aus eigenem Willen seinen Willen
aufgegeben, hatte sich im Suff das Leben nehmen wollen. Er hatte im
Vergleich zu den anderen Beiden den geringsten Willen besessen.
Vielleicht war er deshalb noch am Leben, doch nichts desto trotz
wollte er nun nichts anderes mehr als hier bei dieser Frau bleiben.
Sie sagte, als sie
den Tee servierte:
„Ich habe Dir viel
zugemutet, aber es musste sein. Du musst auf meiner Wissensstufe
stehen, sonst hätte ich immer irgendwas zurückgehalten und mich
gefragt, was es mit Dir auf sich hat.“
„Vielleicht bin
ich wirklich nur eine Chimäre. Nur eine von drei Versionen von
irgendwas. Was hast Du für die Anderen empfunden?“
„Mitleid,
Missachtung, Angst, Wut.“
„Und mir
gegenüber?“
„Mitgefühl,
Gemeinsamkeit, Liebe.“
„Du unterscheidest
Mitleid und Mitgefühl. Und diese anderen Empfindungen scheinen nun
abgearbeitet. Wie eine alte Haut.“
„Lennox, ich kann
Dir das alles nicht erklären, ich bin selbst nur eine Suchende, das
habe ich mittlerweile kapiert. Ich dachte meine Ruhe wäre ein Fels,
aber sie war auch nur ein Boot. Vielleicht bin ich in diesem Haus nie
wirklich zu Hause gewesen. Vielleicht bist nur Du mein Zuhause, und
die Orte bedeuten nichts.“
„Komm, lass Dich
von mir beschützen. Ich will endlich für jemanden da sein. Mir ist
gerade, als hätte ich noch nie etwas festgehalten, das von Wert ist
...“
„Von Wert … Was
soll das sein? Was ist ein Wert? Wir entscheiden selbst. Wenigstens
das können wir mit Sicherheit sagen.“
„Ich wünschte es
wäre so. Wie erkennt man, dass man etwas selbst entschieden hat? Was
ist das entscheidende Indiz dafür? Woher weiß man, dass nicht
irgendwas einen steuert?“
„Ich entscheide
mich, Dich zu küssen. Und ich entscheide mich, Dich zu lieben.“
„Und wenn ich
morgen tot bin, verscharrst Du mich dann neben den beiden Anderen?“
„Wenn Du morgen
tot bist, dann nehme ich Deine Pistole und schieße mir eine Kugel in
den Kopf. Darauf kannst Du Dich verlassen.“ Sie hatte Tränen in
den Augen. Er packte sie und ließ nicht mehr los.
Letzter Teil Freitag, 27.06.2014
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