Donnerstag, 19. Juni 2014

Mein Freund Lennox – Kurzgeschichte in neun Teilen – Teil VIII



Lennox erwachte mit einer unerwarteten Frische.
Neben ihm lag Tavie, friedlich schlummernd und glücklich aussehend, als ob sie mit einem Gefühl der absoluten Geborgenheit eingeschlafen wäre.
Lennox küsste sie auf die Wange, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob sie das guthieße oder nicht. Sie schlug die Augen auf.
„Du bist noch da!“ sagte sie, so als ob sie etwas anderes erwartet hatte.
„Und Du auch.“
„Wir träumen nicht, oder?“
„Nein, aber wenn doch, ist es egal.“
Nun küssten sie sich mit beiderseitigem Einverständnis. Und nichts war schöner als dieser Kuss, dieses Beschließen.
Mit größter Behutsamkeit liebkosten sie sich, waren verwirrt, entzückt und auch überfordert wie Kinder.
„Ich muss Dir unbedingt etwas zeigen.“ sagte Tavie. „Ich muss es. Wenn ich damit warte, platze ich.“
„Was kann das sein?“
„Es wird Dich sehr verwirren. Vielleicht wirst Du darüber an der Welt, so wie Du sie kennst, zweifeln.“
„So ungeheuerlich ist es?“
„Ja, in der Tat. Ich muss das tun, bevor ich mich Dir mit Haut und Haaren hingebe.“
„Also gut. Wenn das die Bedingung ist, dann nehme ich es in Kauf.“
„Aber Du musst dafür ganz offen sein. Für alles. Für etwas, das Du für undenkbar gehalten hast.“
„Jetzt machst Du mir Angst.“
Tavie half Lennox auf die Beine, worauf er sie umarmen wollte, doch sie hielt ihn davon ab.
„Noch nicht, Liebster. Bitte folge mir. Kannst Du gehen?“
„Ja, ich denke schon.“
Tavie nahm einen Spaten mit. Lennox wunderte sich darüber, aber er sagte nichts. Zunächst durfte er ihren Gemüsegarten bewundern, bevor er ihr zum Wald folgte.
An der bewussten Stelle gebot sie ihm zu warten. Sechs Monate waren seit dem zweiten und ein ganzes Jahr nach dem ersten Lennox vergangen, doch sie wusste noch genau, wo sie vergraben waren und wie sie gelegen hatten.
Sie grub an der Stelle des Ersten.
„Du hast etwas vergraben? Einen Schatz?“
„Nicht ganz, obwohl man aus einer gewissen Sichtweise aus sagen könnte, dass es einen Wert hat, auf eine verrückte Weise.“
Lennox starrte auf einen Totenschädel.
„Großer Gott … Wer ist das?“
Tavie beugte sich herunter. Sie schaufelte die Kleidung des Toten frei.
„Der trägt ja meine Jacke!“ sagte Lennox.
„Nicht nur das. Er ist Du. Der erste Lennox, der mich mit einem Boot gefunden hat.“
„Der erste?“
Tavie machte sich daran, den Zweiten freizulegen. Ein weiterer Totenschädel schaute aus dem winterlichen Erdreich heraus. Und auch hier zeigte Tavie dem lebenden Lennox die identische Jacke.
„Zwei Männer, genau wie Du. Sie sahen genauso aus, trugen dasselbe, aber sie waren grundverschieden zueinander, und Du bist zu beiden grundverschieden.“
Er sah auf die beiden Skelette, die nebeneinander lagen. Gruselige Beweise für etwas Unerklärliches.
„Sie haben genauso ausgesehen wie ich? Unverwechselbar? Und was ist mit ihnen geschehen?“
„Einer ist gestorben, als er ausruhte, der andere hat sich versehentlich selbst erschossen. Er war gemeingefährlich.“
„Gemeingefährlich? Und hast Du jedem von diesen Männern auch gesagt, was Du mir gesagt hast? Haben sie mit Dir im Bett geschlafen?“
„Nein, nur Du. Mir kommt es vor, als seien diese beiden Männer nur so etwas wie fehlerhafte Vorentwürfe gewesen, wie als wenn man einen Versuchsballon startet, und noch einen, und beide stürzen ab. Der Dritte fliegt.“
„Und über diese Spekulation hinaus hast Du keine Erklärung dafür?“
„Ich wünschte ich hätte eine. Aber vielleicht wärst Du ohne diese beiden Anderen nicht möglich.“
„Schaue ich in die schwarzen Augenhöhlen von schlechten Kopien von mir? Sind das Klone oder verschollene Drillingsbrüder? Oder bin ich das selbst?“
„Lennox, ich weiß dass Du nicht diese beiden Männer bist. Du bist der Echte, der Lebende.“
„Aber alle guten Dinge sind drei. Was ist, wenn auch ich plötzlich sterbe?“
„Ja, alle guten Dinge sind drei. Und Du bist der Dritte, der, der es gut macht. Der gut ist.“
„Es ist nicht gerade ein erhebendes Gefühl, wenn man damit konfrontiert wird, dass man nicht einzigartig ist.“
„Ich wusste dass Du das sagen würdest. Doch Du bist einzigartig. Ich denke, das ist die Lehre, die man daraus ziehen muss.“
„Wie haben diese beiden Männer gelebt? Wer vermisst sie? Wo sind ihre Familien?“
„Niemand hat je nach ihnen gefragt. Sie sind aus einer unbekannten Welt hier herüber geglitten, vielleicht bist Du das auch. Vielleicht gibt es, wenn man es von dieser Seite des Sees betrachtet, Dein Dorf gar nicht. Vielleicht ist der See eine Grenze nicht nur zwischen zwei Ländern, sondern zwischen vielen Möglichkeiten. Und vielleicht bin ich selbst eine Ursache dafür, was an diesem Steg landet.“
„Du meinst ich bin von Dir hergewünscht worden?“
„Nicht direkt. Vielleicht gibt es eine unbekannte Kraft, die von uns ausgeht und sich auf eine unberechenbare Art manifestiert.“
„Ich kann Dir nur sagen, dass ich gute Erinnerungen an mein Leben habe. Ich weiß, dass es Wirklichkeit war.“
„Das war es auch, aber hier ist es nur Erinnerung. Es ist nicht mehr mit Händen zu greifen. Nicht mehr zurück zu verfolgen.“
„Also sind wir beide das Einzige, was wichtig ist?“
„Ja.“
„Okay, dann schaufeln wir diese beiden Brüder wieder zu. Friede ihrer Asche.“
Lennox half ihr, die Gräber für immer zu schließen.
Tavie fiel auf, dass er seltsam still geworden war. Diese Präsentation der Leichen seiner beiden Doubles hatte ihn verstört, und das konnte sie ihm nicht verdenken.
Im Haus kochte Tavie einen Tee, während Lennox das Foto von Tavies Mann und Sohn betrachtete.
Es gab einen unzulänglichen und einen bösen Lennox. Beide hatte sie überlebt.
Vielleicht hatte Tavie recht. Es schien alles stimmig zu sein, aber Lennox fühlte sich mit dem Gedanken unwohl, dass er eine Art geglücktes Experiment des Schicksals und fremdgesteuert hierher gebracht worden war. Ihm missfiel die Vorstellung, keinen eigenen Willen zu haben. Doch bei näherer Betrachtung musste er eingestehen, dass er sich ohne seinen Willen ins Bein geschossen hatte und das Boot ohne sein Zutun hinausgetrieben war. Er hatte aus eigenem Willen seinen Willen aufgegeben, hatte sich im Suff das Leben nehmen wollen. Er hatte im Vergleich zu den anderen Beiden den geringsten Willen besessen. Vielleicht war er deshalb noch am Leben, doch nichts desto trotz wollte er nun nichts anderes mehr als hier bei dieser Frau bleiben.
Sie sagte, als sie den Tee servierte:
„Ich habe Dir viel zugemutet, aber es musste sein. Du musst auf meiner Wissensstufe stehen, sonst hätte ich immer irgendwas zurückgehalten und mich gefragt, was es mit Dir auf sich hat.“
„Vielleicht bin ich wirklich nur eine Chimäre. Nur eine von drei Versionen von irgendwas. Was hast Du für die Anderen empfunden?“
„Mitleid, Missachtung, Angst, Wut.“
„Und mir gegenüber?“
„Mitgefühl, Gemeinsamkeit, Liebe.“
„Du unterscheidest Mitleid und Mitgefühl. Und diese anderen Empfindungen scheinen nun abgearbeitet. Wie eine alte Haut.“
„Lennox, ich kann Dir das alles nicht erklären, ich bin selbst nur eine Suchende, das habe ich mittlerweile kapiert. Ich dachte meine Ruhe wäre ein Fels, aber sie war auch nur ein Boot. Vielleicht bin ich in diesem Haus nie wirklich zu Hause gewesen. Vielleicht bist nur Du mein Zuhause, und die Orte bedeuten nichts.“
„Komm, lass Dich von mir beschützen. Ich will endlich für jemanden da sein. Mir ist gerade, als hätte ich noch nie etwas festgehalten, das von Wert ist ...“
„Von Wert … Was soll das sein? Was ist ein Wert? Wir entscheiden selbst. Wenigstens das können wir mit Sicherheit sagen.“
„Ich wünschte es wäre so. Wie erkennt man, dass man etwas selbst entschieden hat? Was ist das entscheidende Indiz dafür? Woher weiß man, dass nicht irgendwas einen steuert?“
„Ich entscheide mich, Dich zu küssen. Und ich entscheide mich, Dich zu lieben.“
„Und wenn ich morgen tot bin, verscharrst Du mich dann neben den beiden Anderen?“
„Wenn Du morgen tot bist, dann nehme ich Deine Pistole und schieße mir eine Kugel in den Kopf. Darauf kannst Du Dich verlassen.“ Sie hatte Tränen in den Augen. Er packte sie und ließ nicht mehr los.


Letzter Teil Freitag, 27.06.2014

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